Rechtswirrwarr rund um die Blockade–Prozesse

■ Verfahren gegen Blockierer in Bayern vorerst ausgesetzt - Gericht will Entscheidung des BGH abwarten / Der Grund: Streitfrage, wann das sogenannte Fernziel zu prüfen ist, führt zur uneinheitlichen Rechtssprechung / Anzeige gegen Münchener Richter wegen Rechtsbeugung / Freisprüche mit „eingebautem Bumerang“

Aus München Luitgart Koch

„Die Staatsanwaltschaft ist nach wie vor der Auffassung, daß Blockaden rechtswidrige Nötigung sind“, verkündet der drahtige dunkelhaarige Staatsanwalt Wolfgang Simper im Gerichtssaal des Landgerichts München I. Eigentlich nichts Neues. Neue Aufforderungen zu Blockaden werden strafrechtlich verfolgt, betont er. Auch diese Feststellung überrascht keinen Friedensbewegten. „Die Staatsanwaltschaft wird einschreiten, das möchte ich damit sagen“, warnt er zuguterletzt. Aber auch damit kann er die Seniorin der Münchner Friedensbewegung auf der Zuschauerbank nicht schrecken. Neu an diesem Auftritt in der Verhandlung gegen den Sozialpädagogen Karl W. (38) - angeklagt wurde er von der Staatsanwaltschaft, weil er Flugblätter mit Blockadeaufrufen verteilte - ist jedoch der Hintergrund für diese „staatlichen“ Ermahnungen. Die Berufungsverhandlung wird auf Antrag des Verteidigers Frank Niepel ausgesetzt, bis der Bundesgerichtshof (BGH) über einen Vorlagebeschluß des Oberlandesgericht Stuttgart vom 17.Dezember vergangenen Jahres (AZ 4SS361/87) entschieden hat.Grund für die Aussetzung ist die Streitfrage, ob die sog. Fernziele der Blockierer, nämlich Beseitigung der stationierten Raketen, bereits bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit bzw. Verwerflichkeit der Nötigung oder erst bei der Strafzumessung berücksichtigt werden müssen. Im ersten Fall ist ein Freispruch möglich. Wird das Fernziel jedoch erst geprüft, um die Höhe der Strafe festzusetzen, kann es nur noch strafmildernd wirken. Da diese Kernfrage von den Oberlandesgerichten der einzelnen Bundesländer unterschiedlich behandelt wird, führt dies zu einer uneinheitlichen Rechtssprechung. Das Bayerische Oberste Landesgericht etwa klammert die Fernziele bei der Verwerflichkeitsprüfung generell aus, im Gegensatz zu Urteilen der OLG Köln, Düsseldorf und Zweibrücken. Eigentlich hätten auch die bayerischen Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht, ebenso wie ihre Stuttgarter Kollegen, diesen „Rechtswirrwarr“ erkennen und dem BGH zur Prüfung vorlegen müssen, um die Republik vor einer uneinheitlichen Rechtssprechung zu bewahren. Denn schließlich, wo bleibt sonst der Rechtsfrieden? Doch die Herren Richter sprachen noch im Dezember vergangenen Jahres im Fall der Münchner Altenpflegerin Ingrid K., die ebenfalls Flugblätter mit Blockadeaufrufen verteilt hatte, schuldig. Zur Strafzumessung verwiesen sie das Verfahren gegen die 48jährige zurück an das Landgericht. Einen Tag nach dem Verfahren gegen Karl W. sollte das Gericht über die Höhe ihrer Strafe entscheiden. „Aus Respekt vor dem BGH“, will jedoch jetzt auch der für ihren Fall zuständige Staatsanwalt Arno Greetfeld ihr Verfahren aussetzen. Ob für diesen plötzlichen Sinneswandel der bayerischen Justiz nur der Respekt vor dem BGH ausschlaggebend ist, darf bezweifelt werden. Bevor sich Richter Bernd Bremer (48) an diesem Tag zur Aussetzung des Verfahrens entschließt, hat Verteidiger Frank Niepel bereits einen Befangenheitsantrag gegen ihn gestellt. Rücknahme des Befangenheitsan trags für Aussetzung des Verfahrens, so der Handel. Daß dieser Befangenheitsantrag, es ist bereits der dritte gegen den seit 17 Jahren tätigen Richter, diesmal mehr Gewicht hat, hat seinen Grund. Die Initiative Bayerischer Strafverteidiger hat Richter Bremer, den Vorsitzenden der 13. Strafkammer, wegen Rechtsbeugung sowie Verletzung des Beratungsgeheimnisses angezeigt und in den Zeitungen wird just am Verhandlungstag darüber berichtet. Mehr Publicity ist also nicht gefragt. Freispruch mit Bumerang Mit Richter Bremer hat es nämlich seine eigene Bewandtnis. Wer von der Münchner Friedensbewegung bei der Berufungsverhandlung vor seinem Richtertisch stand, konnte fast zu 100 Prozent mit einer Verurteilung rechnen. Darum überraschten die zwei Freisprüche im April und Juli vergangenen Jahres umso mehr. Den ersten mußte der Richter im April des vergangenen Jahres verkünden. Grund: Er wurde von seinen beiden Schöffen überstimmt. Aber der Richter hatte vorgesorgt. Im schriftlichen Urteil fehlten die Ausführungen dazu, warum die Tat nicht verwerflich sei. Der Einspruch der Staatsanwaltschaft und die Aufhebung des Freispruchs vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht waren damit vorprogrammiert. Was in diesem Fall noch als „Ausrutscher“ hätte gewertet werden können, wiederholte sich jedoch im Juli desselben Jahres beim Verfahren gegen die Fachschülerin für Altenpflege Ingrid K. Im März 87 wurde sie von der Amtsrichterin freigesprochen. Begründung: Die Blockaden, an denen sich eine Menge unbescholtener Bürger beteiligt haben, „sind nach dem allgemeinen Urteil nicht mehr sittlich zu mißbilligen und sozial nicht unerträglich“. In der Berufungsverhandlung vor der 13.Strafkammer des Landgericht München I steht sie dann vor Richter Bremer. Sein „Freispruch mit eingebautem Bumerang“ vom April ist zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt. Deshalb stellt Verteidiger Hartmut Wächtler sofort einen Befangenheitsantrag, um zu verhindern, daß ein möglicher Freispruch von ihm erneut sabotiert wird. Doch Richter Bremer entscheidet selbst, daß er keineswegs befangen sei. Ergebnis der Verhandlung: Freispruch. Wieder hatten die Schöffen den Richter dazu gezwungen. Seine Verlesung des Freispruchs hört sich dann auch über weite Strecken mehr nach Verurteilung an. Und wieder, welch Zufall, vergißt der Richter in seinem schriftlichen Urteil, eine ausführliche Begründung, warum das Gericht die symbolische Blockade der Kasernenzufahrt von Mutlangen nicht als verwerflich ansieht. Mit dieser Vorlage hat die Staatsanwaltschaft leichtes Spiel und der Bayerische Oberste Gerichtshof tut das Seine, indem er den rechtsfehlerhaften Freispruch Mitte Dezember vergangenen Jahres aufhebt. Und um sofort dafür zu sorgen, daß nicht wieder der falsche Ton der Stimme des Volkes sich störend einmischt, wird gleich mitentschieden: Ingrid K. ist schuldig. Gegen diese Entscheidung hat Rechtsanwalt Wächtler Mitte Februar dieses Jahres Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingelegt.