: Arbeiter ohne Frauen
Eine Kleinanzeige in der Leipziger Volkszeitung: „Mathe–Student, Nichtr. su. ab Sept.88 (wenn mögl. auch früher) möbl. Zimmer im Stadtkr., Hilfe im Haushalt u. Räumung des Zimmers zur Messezeit mögl.“ Die knapp fünf Zeilen geben ein plastischeres Bild von der Bedeutung der Messe für die Leipziger Alltagsökonomie als viele Statistiken. Die Buchmesse mit ihren rund 1.000 Verlagen aus 22 Ländern fällt da kaum ins Gewicht. 6.500 Titel bieten die 78 DDR Verlage an. Wie viele davon Erstauflagen sind, war nicht in Erfahrung zu bringen. In diesem Jahr fehlen die sensationellen Nicht–Erscheinungen. Keine gekürzte „Kassandra“, keine neue „Flugasche“. Allerdings: Monika Marons Roman ist in der DDR immer noch nicht erschienen. Die vor zwei Jahren in der Pressekonferenz groß angekündigte Gottfried Benn–Auswahl läßt ebenfalls noch immer auf sich warten. Aber reden wir von dem, was uns beim Gang durch die Buchmesse auffiel. Der Dietz–Verlag bietet drei Bände Gorbatschow „Ausgewählte Reden und Aufsätze“ an. Nach langem Bitten und Circen gelingt es einer guten Bekannten eines führenden Mitarbeiters des Verlages, diesem fünfzig Exemplare für ihre Buchhandlung abzuluchsen. Selig verläßt sie den Stand.Ebenfalls bei Dietz ist eine „Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung“ erschienen. Eine reich bebilderte, mehr als 1.000 Seiten umfassende, zwei– bändige und mit 31 Mark sicher nicht zu teuer bezahlte Arbeit. Allerdings: Wenn das detaillierte Inhaltsverzeichnis nicht trügt, wird der weibliche Anteil an der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung unverschämt verwinzigt: ganze fünf Seiten sind ihm gewidmet. Und auch das nur, um dem Berliner Arbeiterinnenverein von 1885 „Abkapselung von den männlichen Klassengenossen“ vorzuwerfen. Da werden die Genossen die Geschichte wohl bald noch mal umschreiben müssen. Es sei denn, die Genossinnen meldeten sich selbst zu Wort. Die Autoren orientieren sich in erster Linie an der Organisations– und Parteiengeschichte. Das auch in der DDR inzwischen ins Zentrum des Interesses gerückte Alltagsleben spielt in diesen Bänden keine Rolle. Der sozialistische Realismus tut sich schwer mit der Wirklichkeit. Das Verdrängte dringt freilich immer wieder peinlich auffällig durch. Wie soll man es verstehen, daß das Autorenkollektiv eines Bandes über das Leben „Zwischen Alex und Marzahn“ gleich im Anschluß an die Rationalisierung das Freizeitkapitel ansiedelte? Natürlich ohne ein Wort über mögliche Zusammenhänge zu verlieren. Im Akademie–Verlag ist vergangenes Jahr Czeslaw Madajczyks „Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939–1945“ (703 Seiten, 48,–Mark) erschienen. Es handelt sich um eine Kurzversion seines in Polen erschienen Buches. Eine detaillierte, faktenreiche Studie. Aber wie mißtrauisch wird man, wenn in den ersten Seiten auf die Rolle der Sowjetunion eingegangen wird, und der Autor davon spricht, die UdSSR habe das „östlich des Bug liegende, größtenteils von Ukrainern und Belorussen bewohnte Gebiet sowie den Raum von Bialystock“ besetzt? Mit anderen Worten: Stalins Armee hat nicht Polen unterworfen, sondern „Fremdvölker“. Die Besetzung hatte außerdem einen guten Grund: „Das Sowjetvolk fühlte aufrichtig mit dem polnischen Volk, das durch die faschistische Invasion seine staatliche Selbständigkeit und nationale Unabhängigkeit verlor. Es war bestrebt, ihm brüderlich zu helfen, dise Unabhängigkeit wiederzugewinnen.“ Wie soll man da weiterlesen? Bemerkenswert darüber hinaus: Hinstorff setzt die Fühmann– Ausgabe mit „Unter den Paranyas - Traumerzählungen und Notate“ fort, Rütten und Loening kündigt Victor Klemperers Autobiographie „Curriculum Vitae“ an, und - eine kleine Sensation– der Buchverlag Der Morgen hat einen Blindband von Stefan Heyms „Ahasver“ im Regal stehen. Mitte des Jahres soll der Band erscheinen. Volk und Welt bringt die amerikanische Postmoderne in den Arbeiter– und Bauernstaat: Pynchons „V“ und Philip Roths „Portnoys Beschwerden“. Der Verlag der Nation kündigt für Mitte des Jahres an: „Herr im Haus - Prosa von Frauen zwischen Gründerzeit und I. Weltkrieg“, ein umfangreicher Band mit Texten von Hedwig Dohm, Helene Böhlau, Gretel Meisel–Heß und anderen. Soweit ich weiß, die erste Gelegenheit, sich in der DDR mit der deutschen Frauenbewegung jener Jahre bekannt zu machen. Vielleicht wirft das Autorenkollektiv der Geschichte der Revolutionären Berliner Arbeiterbewegung mal einen Blick da hinein und läßt sich aufklären. A.W.
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