Letzte Runde im Strommasten–Prozeß

■ Staatsanwaltschaft beantragt im Prozeß gegen Strommastensäger Sicherungsverwahrung / Psychiatrischer Gutachter spricht sich dagegen aus / „Hang zu schwerwiegenden Straftaten nicht vorhanden / Sachverständiger: verminderte Schuldfähigkeit durch Alkohol / Plädoyers am heutigen Verhandlungstag

Aus München Luitgard Koch

Anfang Februar begann vor der Jugendkammer des Landgerichts München II der bundesweit erste große Prozeß gegen fünf jugendliche Strommastensäger aus dem Raum Starnberg. In der 14seitigen Anklageschrift werden ihnen Straftaten von einfachem Diebstahl bis hin zum Mordversuch vorgeworfen. Von September 86 bis April 87 sägten sie zwei Strommasten und einen Oberleitungsmast beim S–Bahnhof Mühltal um und brachten die S–Bahn Linie 6 beinahe zum Entgleisen. Diese Zugblockade wertet die Staatsanwaltschaft als Mordversuch. Allein drei Millionen Mark Schaden verursachte eine Explosion im Keller einer Tutzinger Villa. Dort lagerte die Elektronikfirma „Tele Security Timmann“, die auch Bauteile für die Rüstungsindustrie herstellt, Chiffrier–Computer. Auf knapp vier Millionen Mark schätzt die Staatsanwaltschaft den Sachschaden insgesamt. Ende Februar wurde das erste Urteil gegen die beiden 20jährigen Peter H. und Georg B. in diesem Prozeß verkündet. Ihr Verfahren war abgetrennt worden, da sie nur an einer Strommastenaktion beteiligt waren und als „Mitläufer“ galten. Sie wurden zu Jugendstrafen auf Bewährung verurteilt. „Wir haben es hier nicht mit Tätern aus der Terroristenszene zu tun“, hob Richter Klaus Poleck in seiner Urteilsbegründung hervor. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft jedoch Revision gegen das Urteil eingelegt. „Machen sie sich keine Hoffnungen nach dem ersten Urteil“, warnt Richter Poleck die 23jährige Steuergehilfin Daniela N., den 25jährigen Rudolf G. sowie den Schüler Mathias Z. (20). Denn für die drei geht der Prozeß weiter. Besonders schwer wiegt der Vorwurf des Mordversuchs „aus niedrigen Beweggründen“, auf den die Höchststrafe lebenslänglich steht, die bei einem „Versuch“ je nach den Umständen, gemildert werden kann. Mathias und Rudolf legten nachts Schienenteile zwischen die Gleise der Schnellbahn. Der Frühzug von Starnberg nach München wurde dadurch kurz aus den Schienen gehoben. Die fünfzehn Fahrgäste blieben unverletzt, lediglich der Lokführer erlitt eine Steißbeinprellung. In dieser „Tatnacht“ sind die beiden Freunde reichlich angetrunken. Zuerst überlegen sie sich, ob sie aus Spaß die Dampfer auf dem Starnberger See losbinden sollen. Als sie dann auf ihrem Streifzug Schienenteile neben den Gleisen liegen sehen, entschließen sie sich spontan. „Die da reinzulegen war eins“, meint Rudolf, genannt „Ratz“. Und Mathias ergänzt hilflos: „Wir dachten doch nicht, daß wegen der kleinen Dinger die S– Bahn entgleist“. Ihre Vorstellung war, daß der Zug die Teile vor sich herschieben und dann stehenbleiben würde. Von der Meldung am Morgen danach, daß der Zug beinahe entgleist sei, war Mathias „geschockt“. Im Schlußbericht der polizeilichen Vernehmung liest es sich jedoch anders. Die beiden hätten spontan beschlossen, die S–Bahn entgleisen zu lassen, schrieben die Beamten. Auch vor Gericht bekräftigt der Vernehmungsbeamte des LKA zunächst nochmals diese Version. Als Verteidiger Gerhard Meyer jedoch nachhakt, muß er zugeben: „Ob Rudolf G. von Entgleisen geredet hat, weiß ich nicht, aber für uns war klar, daß der Zug entgleisen sollte“. Eine schriftliche Aussage Gs, daß sie vorhatten, den Zug entgleisen zu lassen, existiert nicht. „Schnapsidee“ von „starken Männern“ „Für diese Tat gab es keine politische Motivation“, betont „Ratz“. „Es war der reine Blödsinn“, gesteht er. Kurz darauf beantragt Staatsanwalt Hartmut Kaiser beim psychiatrischen Sachverständigen Dr. Eberhard Bundschuh eine Stellungnahme zur eventuellen Notwendigkeit einer Sicherungsverwahrung. Diese zusätzliche Strafe nach der Haft kann normalerweise nur angeordnet werden, wenn der Angeklagte bereits vorbestraft ist. G. hat jedoch keinerlei Vorstrafen. Doch für ihn soll Ausnahme gelten, denn im Falle eines „allgemeingefährlichen Hangtäters“ ist diese Anordnung auch ohne Vorstrafe möglich. „Bleibt nur der Hang, wenn die Taten nicht Signalwirkung und auch nicht der Bereicherung dienen sollten“, insistiert der Staatsanwalt. Beim Psychiater hat er damit aber kein Glück. Zwar sei Rudolf G. eine etwas eigenwillige, neurotisch beeinträchtigte, labile und kontaktarme Persönlichkeit, einen Hang zu schwerwiegenden Straftaten, wie etwa bei Sexualtätern oder notorischen Schlägern unter Alkoholeinfluß, mochte der Gutachter deshalb jedoch noch lange nicht feststellen. Ebenso hätte bei den Taten politischer Fanatismus keine Rolle gespielt. Wesentlich sei vielmehr, eine Art gruppendynamischer Prozeß zwischen den beiden Freunden gewesen. „Allein hätte wahrscheinlich keiner von ihnen etwas getan“, so Bundschuh. Zusammen fühlten sie sich als „starke Männer“. Daniela, die 23jährige Freundin von Mathias, spielte bei dem „Männerduo“ nur eine untergeordnete Rolle. Aus Angst, Mathias zu verlieren, begleitete sie die beiden bei einigen Aktionen. Außerdem be kräftigte der Psychiater die Aussagen des Alkoholsachverständigen Prof. Wolfgang Eisenmenger. Er sah aufgrund des Alkoholpegels beim Großteil der Straftaten eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit als gegeben an. Vor allem die Zugblockade wertete er als „Schnapsidee“. Dafür, daß die Schienenteile nur locker auf die Gleise gelegt waren und nicht mehrere aufgetürmt, spricht auch das Gutachten des Sachverständigen für Werk zeugspuren aus dem LKA. Und auch der technische Sachverständige der Bundesbahn, Dr. Klaus Huber, räumt dies ein. Immer mehr wird klar, daß die Behauptung in der Anklageschrift, den „Angeschuldigten“ war das Entgleisen „bekannt und wurde von ihnen auch beabsichtigt“, nicht haltbar ist. Am vierzehnten Verhandlungstag deutet der Richter dann auch an, daß der Mordvorwurf in Zusammenhang mit fahrlässiger gefährlicher Körperverletzung gesehen werden muß und bei den beiden umgesägten Strommasten im Mühltal und Starnberg ein fahrlässiges Herbeiführen des gefährlichen Eingriffs in Bahn und Energieversorgungsbetriebe in Betracht kommen könnte. „Anschlag unter den Augen der Polizei“ Ebenso reduziert sich die Anklage im Fall der Computerfirma TST, von „vorsätzlichem Herbeiführen der Explosion auf fahrlässiges“. Mathias und Rudolf hatten versucht, einen Brand zu legen, indem sie Aceton in einen Lüftungsschacht schütteten und dann einen Aceton getränkten Lappen in ein Ofenrohr steckten. Es brannte jedoch nicht. Stattdessen bildeten sich im Keller Gase, die explodierten. Die Explosion war nicht vorsätzlich herbeigeführt, entschied der Richter. Nach wie vor bleibt jedoch unklar, wie die Polizei die geständigen Jugendlichen schon 15 Stunden nach der Explosion des Firmengebäudes in ihren jeweiligen Wohnungen verhaften konnte. Ein Beweisantrag des Verteidigers Meyer könnte dieses Rätsel lösen. Er nimmt an, daß Rudolf G. während der Tatzeit und bereits davor, von Mitarbeitern des LKA oder der SOKO „Bahn und Energie“ überwacht wurde. Zum einen ist in den Akten immer wieder von „Hintergrunderkenntnissen“ die Rede, zum anderen geht aus Pressemitteilungen hervor, daß das LKA auf der Pressekonferenz nach den Verhaftungen bekanntgab: Seit drei Wochen ermittle die SOKO konsequent gegen Rudolf G. Ähnlich klingt auch in der Münchner Abendzeitung: G. sei „der Polizei schon seit drei Wochen bekannt in Verbindung mit linksextremen Aktivitäten“. Dafür, daß G. seit geraumer Zeit beobachtet wurde, nennt Rechtsanwalt Meyer auch einen Zeugen. Er wurde im Cafe von einem grauhaarigen Herrn, der sich als LKA– Beamter zu erkennen gab, gefragt warum er zwei Tage vorher G. in seinem Wagen mitgenommen habe. Aufgrund dieser Umstände vermutet der Anwalt, daß der Anschlag auf TST „quasi unter den Augen der Polizei begangen wurde“. Mit der Bemerkung, „die Presse schreibt viel“, versucht der Staatsanwalt den Beweisantrag abzuwehren. Aber auch Richter Polek wirkt nicht gerade begeistert. „Was soll das Gericht für Schlußfolgerungen daraus ziehen“, rätselt er. „Ich sehe die Aufgabe der Polizei auch darin, Straftaten zu verhindern“, hakt der Verteidiger von Mathias, Klaus Witt, nach und verweist auf die Schadenshöhe, die dadurch geringer gewesen wäre. Für den Staatsanwalt ein willkommener Anlaß zynisch zu bemerken: „Wenn ihr Mandant die Tat nicht begangen hätte, gäbs gar keinen Schaden“. Überraschend läßt der Richter den Beweisantrag am nächsten Verhandlungstag dann doch zu. Der Zeuge soll heute noch vor den Plädoyers vernommen werden. Das Urteil wird für den 30. April erwartet.