Die Ozondecke reißt an allen Ecken und Enden

■ Über 100 Wissenschaftler erarbeiteten eine Übersicht über die Ozonentwicklung / Das Ozonloch beschränkt sich nicht mehr allein auf die Antarktis / Abbau der Ozonschicht um sechs Prozent jährlich statt wie bisher vermutet um zwei Prozent

Aus Washington Silvia Sanides

Die Ozonschicht hat nicht nur über der abgelegenen Antarktis ein Loch. Dünner wird die Schutzschicht in unserer Stratosphäre inzwischen auch in der gesamten südlichen Hemisphäre, am Nordpol und in den nördlichen Breitengraden. Außerdem besteht kein Zweifel mehr, daß der Abbau der Ozonschicht menschlichem Tun zu verdanken ist. Dies gaben Wissenschaftler der amerikanischen Weltraumbehörde NASA am letzten Dienstag auf einer Pressekonferenz in Washington bekannt. Die besorgniserregenden Schlußfolgerungen über den Abbau der Ozonschicht sind das Ergebnis eines 1986 von der NASA und der UNO gemeinsam gegründeten „Projekts zur Ozonentwicklung“. Über hundert Wissenschaftler analysierten und korrigierten sämtliche Meßdaten, die bis Ende 1987 im Rahmen der verschiedensten Studien zur Ozonschicht erstellt worden waren, und erhielten damit eine Gesamtübersicht über die Ozonentwicklung seit Ende der sechziger Jahre. Der so gefundene Entwicklungstrend im Ozongürtel veranlaßte die Forscher der NASA zu pessimistischer Haltung: „Unsere theoretischen Modelle“, so Robert Watson, Leiter der Forschungsgruppe, „sind wahrscheinlich zu optimistisch. Die Ozonschicht wird rascher abgebaut, als wir vermutet haben.“ Dies trifft vor allem für den Zustand der Ozonschicht in der nördlichen Erdhalbkugel zu. Um sechs Prozent geht die Ozonschicht in unseren Breitengraden im Verlauf des Winters zurück, so das Ergeb nis der Studie. Bisherige Modelle hatten für das Gebiet lediglich eine Ozonverminderung um zwei Prozent auf Grund menschlichen Einflusses ergeben. Während das Ozonloch über der Antarktis ein viel beschriebenes Phänomen ist, war der Ozonabbau in nördlichen Breitengraden bisher kaum ein Thema. Die klimatischen Besonderheiten, die das Ozonloch in der Antarktis mitauslösen können, gibt es am Nordpol nicht, so die NASA–Forscher: „Die festgestellten Änderungen im Ozon sind also ganz oder teilweise auf die zunehmende Konzentration von Gasen, hauptsächlich Chlorfluorokohlenwasserstoffen (CFC), zurückzuführen.“ Diese Gase aber sind das Produkt des Industriemenschen. Sie dienen als Treibstoff in Sprühdosen, befinden sich in Kühlmitteln in Kühlschränken und Klimaanlagen sowie in Isolierstoffen. Wenn sie in die Stratosphäre gelangen, tragen sie zum Abbau der Ozonschicht bei, die gefährliche UV– Strahlung von der Erde abschirmt. In einem beispielhaften Bemühen für den internationalen Umweltschutz hatten sich im September letzten Jahres fast 50 Nationen in Montreal, Kanada, zusammengefunden und ein Protokoll zur Einschränkung der Produktion von CFCs erarbeitet. Das Protokoll von Montreal - ironischerweise gerade am Montag von den USA ratifiziert - wurde vom Leiter des NASA–Projekts am Dienstag scharf kritisiert: „Es hat - bis zum Ende des Jahrhunderts - keinen Biß.“ Die Industrieländer nämlich, so Watson, bauen ihre Produktion von CFC–Gasen nur graduell ab, und den Entwick lungsländern räume das Protokoll ohnehin viel zu viel Sonderrechte ein. Das Protokoll von Montreal müsse durch ein „drakonisches Protokoll“ ersetzt werden, das jede Produktion und Verwendung der Gase verbietet. Auch ein durchgreifendes Verbot von heute würde erst lange in der Zukunft, nämlich in 90 bis 100 Jahren, entscheidend wirken, weil die Gase nur sehr langsam abgebaut werden. In den kommenden Jahren, so die NASA–Studie weiterhin, wird sich der Abbau der Ozonschicht fortsetzen. CFC–Gase nämlich, die heute in die Atmosphäre gelangen, entfalten ihre Auswirkung auf die Ozonschicht erst in zehn Jahren. Am stärksten werden weiterhin die Antarktis und die anschließenden südlichsten Breitengrade betroffen sein. Bereits im vergangenen Herbst war das Ozonloch über dem Südpol von längerer Dauer und mit einer Ozonverminderung um über 95 Prozent ausgeprägter als je zuvor seit Beginn der Messungen im Jahr 1979. Außerdem, so die Studie, habe das gesamte Gebiet südlich des 60. Breitengrads fünf Prozent seiner Ozonschicht verloren. Daß sich diese Entwicklung bereits auf die verschiedensten Lebewesen auswirkt, will Projektleiter Watson nicht ausschließen. Nimmt die UV–Strahlung nämlich nur um ein Prozent zu, erkranken schätzungsweise vier Prozent mehr Menschen an Hautkrebs. Da fast nur Weiße an dieser Form des Hautkrebs erkranken, dürften besonders Einwohner von Australien und Neuseeland bereits unter den Folgen der verminderten Ozonschicht leiden: Eine Zunahme der UV–Strahlung um fünf Prozent könnte in den kommenden Jahren 30 Prozent zusätzliche Hautkrebsfälle auslösen. Setzt sich der globale Ozontrend wie erwartet fort, muß mit einer ähnlichen Entwicklung auf der nördlichen Erdhalbkugel gerechnet werden, wo nur eine Minderheit der Bevölkerung durch eine dunkle Haut geschützt ist. Pessimistische Prophezeiungen dieser Art machte Watson ohne die Billigung seiner Kollegen. Diese zogen es vor, der Öffentlichkeit auch Positives zu bieten: Immerhin unterliege die Ozonschicht jahreszeitlichen Schwankungen. So sei das Ozonloch am Südpol und in Südaustralien im Frühjahr am stärksten ausgeprägt, wenn es ohnehin zu kalt zum Sonnenbaden sei. Der Trost löste jedoch nur Gelächter aus.