Alte Muster

■ Die sowjetische Gratwanderung in der Nationalitätenfrage

Mit den Appellen an die „internationalistischen Prinzipien“ der Arbeiterbewegung ist in der heutigen Sojetunion wirklich kein Staat mehr zu machen. Das weiß auch die Parteiführung unter Gorbatschow, der bei seinem JugoslawienBesuch noch optimistische Töne für die Lösung der Nationalitätenprobleme von sich gab. Wenn jetzt jedoch in der Prawda auf alte ideologische Muster zurückgegriffen wird, ist dies ein Hinweis darauf, daß auch der reformerische Parteiflügel ins Schwimmen kommt. Die Lage ist tatsächlich verzwickt. Gäbe Gorbatschow den armenischen Forderungen voll und ganz nach, hätte er die dem mohammedanischen Kulturkreis zugerechneten Aserbeidschaner gegen sich aufgebracht. Das könnte den Einfluß islamischer Fundamentalisten größer werden lassen. Überließe er aber die Armenier in Berg–Karabach ihrem jetzigen Schicksal, wäre mit neuen Demonstrationen und mit gesteigerter Unruhe in Armenien zu rechnen. Was immer die Parteiführung also entscheidet, ihre Unfähigkeit, eine „gerechte“ Lösung zu finden, heizt die Stimmung an. Ob das mit der sich nun abzeichnenden Kompromißformel anders läuft, ist wohl sehr fraglich. Denn mit ein bißchen mehr kultureller Autonomie werden sich die Armenier in Aserbeidschan nicht mehr zufrieden geben. Auch die Versprechen auf Wirtschaftshilfe sind nach den Erfahrungen der Vergangenheit kaum durchschlagskräftig, und die Kritik an der armenischen Partei führt zur Solidarisierung. Der neue und alte Nationalismus bei den Völkern der Sowjetunion nährt sich auch aus der Legitimationskrise des Marxismus–Leninismus. Gorbatschows Reformpolitik hat das politische Vakuum offensichtlich noch nicht mit neuen Inhalten und Werten füllen können. Man darf gespannt darauf sein, ob es gelingt, auch in der Nationalitätenpolitik eine glaubwürdige Zukunftsvision zu entwickeln. Die in der Prawda vorgegebene Linie jedenfalls läßt eher daran zweifeln. Erich Rathfelder