Atomreaktoren von der Stange

■ Mit einer neuen Hochtemperaturreaktor–Linie will die Atomindustrie aus der Flaute kommen / Von Gerd Rosenkranz

Seit Jahren geistert er durch die Entwicklungsabteilungen der AKW–Industrie, jetzt hat Siemens Interatom in Niedersachsen die Genehmigung für den Bau eines Hochtemperaturreaktors in Kleinformat gestellt. Standortunabhängig soll die gesamte Reaktorlinie geprüft werden - gibt Niedersachsen grünes Licht, bietet die AKW–Industrie einen Reaktor im Fertigbauverfahren. Ein Lichtblick für die Siemens–Aktionäre, die sich bei ihrer morgigen Hauptversammlung über die Senkung der Dividenden ärgern werden.

Energieprogramme kommen und gehen, zumal die einzelner Bundesländer. So war es kein Wunder, daß auch Niedersachsens FDP– Wirtschaftsminister Walter Hirche Mitte Februar mit seinem „Energieprogramm 1988“ bundesweit nur wenig Resonanz fand. Doch was die niedersächsische Landesregierung aus diesem Anlaß als Absichtserklärung zum Thema Atomenergie zum Besten gab, könnte einmal als entscheidende Weichenstellung zur Überwindung der tiefsten Depression der bundesdeutschen Atomindustrie in den Annalen der Reaktorbauer auftauchen. Hirche teilte nämlich mit, sein Land wolle künftig mit Hilfe von Hochtemperaturreaktoren Strom, Prozeßwärme und Heißdampf erzeugen und damit wahlweise Braunkohle aus dem Helmstedter Revier veredeln oder niedersächsisches Öl im Emsland an die Erdoberfläche pressen. Aber der Reihe nach: Seit Mai 1987 brütet der für die Genehmigung von Atomanlagen zuständige Hirche–Kollege, Umweltminister Remmers (CDU), über einem Dossier, das den Absender der Reaktorbauer von Siemens/ Interatom trägt. Die Unterlagen enthalten den Sicherheitsbericht und den Genehmigungsantrag für einen Hochtemperaturreaktor in Modulbauweise. Wie die meisten Reaktoren der HTR–Familie existiert auch der HTR–Modul nur auf dem Papier. Gleichwohl konzentrieren sich die Zukunftshoffnungen von Atom– und Elektrizitätswirtschaft vor allem auf diese „fortgeschrittene Reaktorlinie“. Neue Aufträge für die 1.300–Megawatt–Leichtwasserreaktoren (LWR) zu Hause und im Ausland sind kaum noch zu erwarten, und die Schnellen Brüter scheinen ihre Zukunft bereits hinter sich zu haben. Neu ist nicht nur das Reaktor– Konzept, neu und weit über Niedersachsen hinaus brisant ist vor allem die Genehmigungsstrategie der HTR–Planer. Die Atomgemeinde hat den Paragraphen 7a des Atomgesetzes entdeckt, der es ihr ermöglicht, den Modulreaktor grundsätzlich genehmigen zu las sen, ohne zuvor den Standort zu benennen. „Standortunabhängige Konzeptgenehmigung“ heißt das Zauberwort, und zwei Ziele verbindet die Atomindustrie damit. Die Wahl künftiger AKW–Standorte soll im Genehmigungsverfahren solange hinausgezögert werden, bis eine erfolgreiche oder auch nur hinhaltende Gegenwehr der Bevölkerung in der Umgebung eines zukünftigen Standortes vor den Gerichten und auf der Straße ausgeschlossen werden kann. Gleichzeitig hofft man, auf diese Weise erstmals eine ganze Generation von Atomkraftwerken praktisch in einem Aufwasch als „Typen–Zulassung“ installieren zu können. Das Rezept zur Umsetzung ist denkbar einfach: Zunächst suche man sich einen fiktiven Standort, erdbebengefährdet, inmitten eines Ballungsgebiets und auch sonst unter Sicherheitsgesichtspunkten so ungünstig wie irgend möglich. Sodann versichere man sich des Wohlwollens einer atomrechtlichen Genehmigungsbehörde und lasse sich seinen fiktiven Reaktor für den fiktiven Negativ–Standort genehmigen. Ist der Reaktor erst am schlechtestmög lichen Standort genehmigt, ist er auch für alle anderen Standorte „ungefährlich“ und kann deshalb, so der Traum, jederzeit überall hingestellt werden. Wolfgang Steinwarz, bei Interatom für den HTR–Modul zuständig, bekommt schon bei der Vorstellung, daß dieser Coup gelingen könnte, glänzende Augen. Der Antrag müsse so gestellt werden, daß die „Anlage an jedem beliebigen Standort in der Bundesrepublik genehmigungsfähig ist“, meint Steinwarz und gerät regelrecht ins Schwärmen: „Wenn wir die von uns angestrebte standortunabhängige Konzeptgenehmigung erhalten, dann können wir sicher sein, daß auch internationale Genehmigungsanforderungen abgedeckt sind.“ Potentielle Kunden lockt die AKW–Industrie noch mit einem weiteren, unbezweifelbaren Vorteil: Der Reaktor soll nicht nur gleich in Serie gehen, sondern vor allem weitgehend beim Hersteller vorgefertigt werden. „Die Montage vor Ort beginnt erst sechs Monate vor Beginn der Inbetriebnahme.“ In den Träumen der Reaktorbauer stellen Vorzeige–Reaktoren im eigenen Land jedoch nur den Auftakt für ein weltweites Geschäft mit ihren strahlenden Produkten dar. Sollte es hierzulande Schwierigkeiten bei der Genehmigung geben, will ein Konkurrenz– Konsortium unter Führung von Asea Brown Boveri (BBC) bereits den „Einführungsreaktor“ der HTR–100–Serie Mitte der neunziger Jahre in der Sowjetunion in Betrieb nehmen, mindestens zehn weitere sollen in „absehbarer Zeit“ folgen. Ein Vertrag zur atomaren Zusammenarbeit mit den Russen ist seit Sommer 1987 unter Dach und Fach. In der vergangenen Woche unterzeichnete die Essener Firma Innotec Energietechnik als Vertreterin des HTR–100– Entwicklungskonsortiums eine analoge Vereinbarung mit der Volksrepublik China. Genehmigung Ende 1988 So ist es geplant, und so wurde das neue Verfahren auch in einem Insider–Kreis aus Industrie, TÜV– Gutachtern, Mitarbeitern der Kernforschungsanlage Jülich und Ministerialen seit Jahren vorbereitet. Eine Verzögerung trat ein, nachdem zunächst das SPD–regierte Nordrhein–Westfalen für die Genehmigungspremiere ausgeguckt wurde. Dort sind mit einem kleinen Versuchsreaktor (15 Megawatt) in Jülich und dem THTR–300 in Hamm–Uentrop die beiden einzigen Hochtemperatur– Reaktoren der Bundesrepublik in Betrieb. Der für die Genehmigung zuständige Minister Reimut Jochimsen (SPD) nannte den THTR–300 einen „Meilenstein“ auf dem Weg in eine Reaktortechnologie für das nächste Jahrhundert und Ministerpräsident Rau hielt die HTR–Linie noch nach Tschernobyl für „sicher und vorzugswürdig“. Nichts lag also näher, als auch den ersten HTR–Modul in NRW auf den Weg zu bringen. Doch dann erregte - sehr zum Leidwesen der HTR– Planer - bald nach Tschernobyl ein bis heute nicht restlos aufgeklärter Störfall im THTR–300, die Bevölkerung. Die SPD–Basis in der Region und auch die Landtagsfraktion rebellierten kurz, aber heftig. Seitdem schlummerte der Antrag in den Aktenschränken des Jochimsen–Ministeriums, bis Siemens/Interatom mitteilte, man sei „an der Fortführung des Verfahrens nicht mehr interessiert“. Niedersachsen sprang ein, siehe oben. Von der Zusammenarbeit mit der Regierung in Hannover erhoffen sich die Reaktorplaner eine ganz andere Dynamik: „Wir gehen davon aus, daß wir das Konzeptgenehmigungsverfahren in etwa einem Jahr abgewickelt haben“, erklärte Interatom–Mann Steinwarz im Herbst 1987. Ende dieses Jahres soll der Standort feststehen und 1990/91 mit dem Bau des ersten Modul–Reaktors begonnen werden. Die Rechnung könnte mit ein paar Monaten Verspätung aufgehen, die Spekulation auf Allzumenschliches Erfolg haben. Denn massenhafter Protest ist bisher stets erst dann aufgeflammt, wenn der Katastrophenradius um ein neues Atomprojekt konkret gezogen werden konnte. Im Spätsommer will Remmers über den HTR– Antrag entscheiden. Die „Beteiligung der Öffentlichkeit“ in Form eines Erörterungstermins könnte im Herbst anstehen. Sie wäre abgeschlossen, noch bevor künftige Anlieger ahnen, daß sie einer ungewissen Zukunft im Schatten des Atoms entgegensehen. Als Interessenten außerhalb Niedersachsens sind die Stadtwerke von Köln, Düsseldorf, Krefeld Wuppertal und München im Gespräch. In dieser Situation hat sich die Atommüllkonferenz, in der sich regelmäßig Anti–AKW–Gruppen aus der ganzen Bundesrepublik treffen, zu Wort gemeldet. Um „breiten Widerstand gegen den HTR–Modul zu entwickeln“, sollen in einem ersten Schritt „in der ganzen Bundesrepublik Sammeleinwendungen für das im ersten Halbjahr 1988 zu erwartende Einspruchsverfahren organisiert werden“. Damit soll zunächst verhindert werden, daß das Öffentlichkeitsverfahren vor leeren Rängen über die Bühne geht. Jeder Einspruch ist gleichzeitig eine „Eintrittskarte für den Erörterungstermin“. Außerdem, so die Hoffnung der Atommüllkonferenz, werden nach der Benennung des Standorts an jedem nur denkbaren Ort (in Niedersachsen) „juristisch Betroffene“ Einwender für die Auseinandersetzung vor den Gerichten bereitstehen. Kontakt: „Arbeitsgruppe gegen den HTR“ c/o Bürgerinitiative Umweltschutz (BIU), Stephanusstraße 25, 3000 Hannover 91, Tel: 0511/445212