Siemens–Dämmerung

■ Der deutsche Dinosaurier hat Probleme mit dem Chipzeitalter / Auf dem Weg vom Gemischtwarenladen zum Elektronik–Spezialisten wird neue Beweglichkeit verlangt

Von Georgia Tornow

Wenn Vorstandschef Karlheinz Kaske sich nach der Vorstellung des Geschäftsberichts auf der heutigen Hauptversammlung der Siemens AG hinsetzt, wird die Versammlung von einem kollektiven Kommunikationserlebnis der „Dritten Art“ heimgesucht werden. Ohne den Einsatz fremder oder hauseigener Technologien wird in den Köpfen der Versammelten ein Gongschlag das Zeichen „Ring frei“ geben. Vorbereitet ist diese mentale Gleichschaltung durch zahlreiche Presseberichte. Es soll nämlich Krach geben auf der diesjährigen Hauptversammlung. Sprecher verschiedener Aktionärsvereinigungen, die ihren Mund im Interesse der rund 540.000 Kleinaktionäre aufmachen, wollen dem Vorstand die Entlastung verweigern; Mitglieder der Familie „von Siemens“ - 222 Menschen, die 10 Prozent des Aktienkapitals halten - wollen erstmals öffentlich Kritik an der Geschäftsführung üben. Nur von der „Siemens–Familie“, dem hausinternen Lieblingsausdruck für die Masse der Mitarbeiter, ist bislang kein Zoff angesagt. Der Ausgangspunkt für den hohen Unterhaltungswert der diesjährigen Hauptversammlung ist eigentlich eine olle Kamelle. Bereits im November hatte der Vorstand eine Dividendenkürzung angekündigt. Statt zwölf sollen den Aktionären pro Coupon 1988 nur elf Mark ausgezahlt werden. Dadurch spart der Konzern 49 Millionen Mark - angesichts der sonst üblichen Dimensionen bei Siemens ein ganz kleiner Fisch. Das Problem liegt dann auch eher in der Signalwirkung, und zwar nach außen wie innen. Schon seit Kaisers Zeiten ist Siemens ein Flaggschiff der deutschen Industrie. Mit 359.000 Mitarbeitern in 123 Ländern der Erde ist der Elektrokonzern auch heute noch der größte deutsche Multi mit einem Umsatz von 51,4 Milliarden DM im Jahr 1987. Aber im vergangenen Geschäftsjahr gab es auch einen Gewinneinbruch von 13 Prozent von 1,5 auf 1,3 Milliarden. Dramatisch werden diese Zahlen aber vor allem, wenn wir dem Geschäftsbericht entnehmen, daß der Jahresgewinn kaum aus dem produktiven Bereich kommt, sondern ungefähr den Zinserträgen aus den weitgestreuten Finanzanlagen entspricht. Diese Zahlen zeigen ganz klar: Siemens hat die Dinosaurier– Krankheit, will heißen: zu groß und nicht zeitgemäß. Zwar ist es dem traditionellen Elektrokonzern gelungen, auf neue Märkte vorzudringen, aber die interne Pickelhauben–Mentalität stand und steht dem flexiblen Reagieren auf veränderte Bedingungen entgegen. Ein Paradebeispiel hierfür ist der Umgang mit dem Reaktorgeschäft des Siemensbereichs KWU, an dem trotz der faktischen Abbestellungen beim ehemaligen Vorzeigekunden Brasilien, trotz der zum Glück für die Menschheit immer wieder verzögerten Inbetriebnahme des Schnellen Brüters in Kalkar und selbst nach den Erfahrungen von Tschernobyl verbissen festgehalten wird. Aber auch im Elektronik–Bereich, dem weltweiten Wachstumsmarkt Nummer 1, hat Siemens nur bedingt eine glückliche Hand. Zwar belegt der deutsche Multi den Platz vier auf der Weltrangliste der Elektronik–Riesen, aber immer wieder gibt es publizitätsträchtige Flops. Dir Produktion des mit Toshiba zusammen entwickelten Mega–Bit–Chips in der eigens hierfür gebauten Regensburger Musterfabrik verzögerte sich um mehr als ein Jahr, und der Versuch, den Markt der Autotelefone zu beherrschen, brachte vor allem laut unzufriedene Kunden. Da nützen dann auch Investionen in zweistelliger Millionenhöhe für Forschung und Entwicklung wenig. Die Kritiker aus den Chefetagen der Konkurrenz haben den Grund für die Unbeweglichkeit der Siemensianer bei der schnell wechselnden hightech–Produktion schon ausgemacht: Weil der Konzern sich der Aufträge aus den verschiedensten Beschaffungsstellen des Bundes von den Streitkräften bis zur Post immer sicher sein konnte und auch Subventionen überreichlich flossen, haben die Siemensianer den Anschluß an den Markt verloren. Bei Siemens wird das auch als ein Problem der Binnenstruktur im Konzern dargestellt. Pickelhauben abnehmen, wird wohl die Losung sein, die auch an den Mitarbeitern nicht spurlos vorbeigehen wird.