„Es ist ihm ohne weiteres zuzutrauen“

■ WAA–Gegner zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt / Exemplarische Ausweitung des Versammlungsgesetzes auf das Vorfeld einer Demo / In erster Instanz glatter Freispruch / Zweimalige Saalräumung und Erzwingungshaft für Zeugen

Aus Nürnberg Bernd Siegler

Bewaffnete Polizei in den Gängen des Nürnberger Landgerichts, Richter Winter läßt den überfüllten Zuhörersaal räumen, wechselt in einen anderen Raum. Wenige Minuten später das gleiche Schauspiel. Die wenigen neu hinzugekommenen Zuhörer werden abgeräumt, zwei aussageunwillige Zeuginnen in Erzwingungshaft genommen. Jungstaatsanwalt Schäfer, der auf dem besten Weg ist, sich einen Namen als Hardliner und damit schnelle Karriere zu machen, ist das noch nicht genug. Er fordert zusätzlich ein Ordnungsgeld wegen ungebührlichen Verhaltens. Die Stunde der Scharfmacher schien am Dienstag im Landgericht Nürnberg–Fürth gekommen zu sein. Zu verhandeln war ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Am 6.Juni 1986 war Ralf J. zusammen mit zwei Frauen von Nürnberg nach Erlangen zur Szene–Kneipe „Wirtschaftswunder“ mit einem geliehenen VW–Golf unterwegs. Dort ist auch sein Arbeitsplatz als Schankhilfe. Kaum eingetroffen wird das Trio gegenüber der Gaststätte gestoppt - Fahrzeugkontrolle. Die Beamten eines Streifenwagens finden das, wonach sie suchen und worauf sie durch einen Funkspruch einer Zivilstreife, die dem Golf bereits seit Nürnberg gefolgt war, angesetzt wurden: „gefährliche Gegenstände“ und „passive Waffen“, wie z.B. einen verrosteten Stoßdämpfer, eine Dose Nitroverdünner, Muttern, Feinstaubmasken und unter Pullovern eine Zwille. Die Zivilstreife parkt derweil in gehörigem Abstand und beobachtet die Aktion der Kollegen. Ralf J. erklärt den Beamten, daß er die Gegenstände für anstehende Renovierungsarbeiten u.a. in der Kneipe benötigt. Von der Zwille wisse er nichts. Das Trio wird festgenommen, die Verfahren gegen die beiden Mitfahrerinnen werden wegen fehlender Zuordbarkeit der Gegenstände eingestellt. Anders bei Ralf J., denn er ist eine „bekannte Person aus dem Widerstand“, so sein Verteidiger Franz Schwinghammer aus Regensburg. „Auf dem Weg zu einer Großdemonstration gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf am 7.6.“ habe sich Ralf J. befunden, heißt es später in der Anklageschrift. Das Mitführen von gefährlichen Gegenständen zu einer Versammlung sei ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, zu ahnden mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Daß Erlangen auf dem Weg von Nürnberg nach Wackersdorf genau in entgegengesetzter Richtung liegt, stört den übereifrigen Staatsanwalt Schäfer nicht. Auch vom Freispruch erster Klasse in der ersten Instanz läßt sich der Ankläger nicht beeindrucken. Rechtsanwalt Schwinghammer sollte mit seiner damaligen Äußerungen Recht behalten, es seien wohl höhere Instanzen an einer Verurteilung interessiert. „Der Weg mit einem gefährlichen Gegenstand zu einer Versammlung beginnt dann, wenn der Betreffende damit die Wohnung verläßt“, argumentiert der Staatsanwalt in seinem Plädoyer und weitet damit das Versammlungsrecht auf das räumliche und zeitliche Vorfeld einer anstehenden Demonstration aus. „Unterbrechungen wie etwa Raststätten– oder Kneipenbesuche bedeuten keinen Abbruch dieser Kausalkette.“ Die vielzitierte „Gesamtschau der Umstände“ und die „nüchterne, objektive Betrachtung“ mache es für jeden „normalen Beobachter“ zwingend, daß sich Ralf J. just an diesem Tag auf dem Weg nach Wackersdorf zuerst in die entgegengesetzte Richtung aufgemacht hat. Fünf Umstände sind es, die die abenteuerliche Konstruktion des Jungstaatsanwalts tragen sollen. Unstrittig sei, daß am 7.6. eine Großdemonstration stattgefunden habe. Zudem gebe es polizeiliche Erkenntnisse, wonach das „Wirtschaftswunder“ Anlaufstelle für auswärtige Demo–Teilnehmer sei und ein Großteil der Teilnehmer, die einen weiten Anreiseweg haben, schon am Vorabend anzureisen pflegen. Auch die nur knapp 100 km von Nürn berg nach Wackersdorf „können für manchen eine weite Strecke sein“. Angesprochen auf diese Erkenntnisse erntet Verteidiger Schwinghammer nur Schweigen. Die Polizeizeugen haben dazu keine Aussagegenehmigung. Lediglich ein Polizist darf die Tatsache bestätigen, daß das Fahrzeug schon eine Zeitlang vor der Festnahme oberviert worden ist. So hatten die Zivil–Beamten bereits in Nürnberg den Besuch der Observierten in einer Alternativkneipe über Funk vermeldet. Als die Zivilfahnder bei der Verfolgung des Golfs das Erlanger Stadtgebiet erreichten, organisierten sie sich im Wege der Amtshilfe eine Funkstreife, die dann mit der Durchsuchung des Fahrzeuges beauftragt wurde. Hauptsäule der Anklagekonstruktion ist jedoch das, was Schwinghammer die „Gesinnung des Angeklagten“ nennt und was Staatsanwalt Schäfer hinter seiner „Gesamtschau“ versteckt. Alle drei Insassen seien „Wackersdorf–erfahren“, denn sie sind schon einmal im Zusammenhang mit Aktionen gegen die WAA festgenommen bzw. verurteilt worden. Erschwerend komme dazu, daß „dem Angeklagten die Tat ohne weiteres zuzutrauen ist“. „Seine Gefährlichkeit“, so Schäfer, sei durch das Sprühen der Buchstaben „RAF“ auf eine Schulwand im Jahr 1981 und die daraufhin erfolgte Verurteilung wegen Werbens für eine terroristische Vereinigung hinlänglich bekannt. Wegen der „Gefährlichkeit“ des Angeklagten fordert Schäfer denn auch zehn Monate Haft. Daß Ralf J. das Fahrzeug noch in der Nacht hätte zurückgeben müssen, stört Landrichter Winter ebenso wenig wie der fehlende Nachweis für den Weg nach Wackersdorf, für die Kenntnis von der Zwille und den Zweck der Gegenstände. Winter schließt sich in seinem Urteilstenor und in der Terminologie den Ausführungen des Anklägers voll und ganz an. „Nüchtern und unbeeinflußt betrachtet“ seien die aufgefundenen Gegenstände „für nichts anderes als eine Demonstration zu verwenden“. Der Angeklagte sei „Demonstrationen nicht abgeneigt“, das bewiesen allein schon die bei ihm gefundenen Demo– Routen und Flugblätter für andere Aktionen. Er verurteilt Ralf J. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Ein Drittel ist bereits durch Untersuchungshaft verbüßt, den Rest setzt er auf vier Jahre zur Bewährung aus. Daß Ralf J. jetzt, wie sein Verteidiger betont, vor Großdemonstrationen immer in der Gefahr einer Festnahme schwebt, sobald er sich aus seiner Wohnung fortbewegt, ist dabei gewollt. Denn wer hat kein Werkzeug oder einen Reservekanister im Auto?