Generalstreik in Karabach

■ Der Konflikt um das Armenier–Gebiet spitzt sich zu / Demonstration in Eriwan unter Druck abgesagt / Aserbeidjanische Miliz in Karabach / Die Moskauer Führung bietet Wirtschaftshilfe und ein bißchen Kultur

Von Erich Rathfelder

Berlin (taz) - Der Konflikt um das armenische Berg Karabach hat sich gestern wieder zugespitzt. Während in der armenischen Enklave in Aserbeidjan das öffentliche Leben durch einen Generalstreik lahmgelegt war, sorgte in Eriwan militärischer Druck für Ruhe. Am heutigen Samstag läuft die vierwöchige Frist ab, während derer sich die Demonstranten in Eriwan, der armenischen Hauptstadt, aufs Stillhalten eingelassen hatten. Nach Ende der Bedenkfrist soll heute die Moskauer Führung endlich klarstellen, wie sie mit dem Nationalitätenkonflikt in Transkaukasien umgehen will. Unter Druck wachsender Militärpräsenz - über Eriwan terrorisieren seit Tagen tieffliegende Hubschrauber die Bevölkerung - sind die für den heutigen Samstag geplanten Demonstrationen offenbar abgesagt worden. Bei Kundgebungen vor vier Wochen hatten Hunderttausende in Eriwan neue Demonstrationen für den Fall angekündigt, daß die Moskauer Führung nach der Bedenkzeit nicht auf die Forderung nach einer Eingliederung von Berg Karabach eingehen würde. Wie das führende Mitglied des „Komitees Karabach“, der Bürgerrechtler Jegor Muradien, am Freitag telefonisch mitteilte, habe das Komitee angesichts der Lage keine Alternative gehabt, als die Demonstration abzusagen. Die Bevölkerung sei vom Komitee aufgefordert worden, entgegen des Beschlusses vom 27.Februar nicht auf die Straße zu gehen. Die Demonstrationen wurden von den Regionalbehörden mit einem Trick für illegal erklärt: Seit Donnerstag müssen sie zehn Tage vorher bei den Behörden angemeldet werden. Nach Informationen armenischer Exilkreise, die mit Berg Karabach Verbindung halten, werden dort seit gestern verstärkt aserbeidjanische Truppen eingesetzt. In Moskau schätzte der Chefredakteur der Zeitung Glasnost, Sergej Grigorianz, die Zahl dieser Milizionäre auf über 15.000. Angesichts der Ereignisse vom 28.Februar, als Milizionäre den Massakern an Armeniern in der aserbeidjanischen Stadt Sumgaid fast tatenlos zusahen, zeigten viele Armenier jetzt offen ihre Verbitterung über die Politik Moskaus. Trotz der Militärs wurde gestern der Streik in Karabach durchgehalten, Soldaten gingen nun von Haus zu Haus, um den Streik zu brechen. Fortsetzung Seite 2 Auch in Armenien selbst hat sich die Lage verschärft. Auch dort sind nach Angaben oppositioneller Kreise aus Moskau neue Truppen eingetroffen. Seit vier Tagen terrorisierten tieffliegende Hubschrauber die Bewohner Eriwans. „Die Hoffnungen auf eine gerechte Lösung sinken in der Stadt auf Null“, hieß es aus Eriwan. Nachdem vor knapp einem Monat die Massendemonstrationen im Vertrauen auf eine offene Diskussion mit der Parteiführung über die entstandenen Konflikte eingestellt worden waren, hätte man seither eine antiarmenische Propagandakampagne über sich ergehen lassen müssen, die ihresgleichen in der Geschichte suche. Ein ganzes Volk sei zu Extremisten abgestempelt worden. Der Fall des Korrespondenten der Prawda in Armenien, Arkeljan, wird als Beispiel dieser Pressepolitik angeführt: Nachdem der Journalist gegen die inhaltliche Verdrehung seiner Artikel durch die Zentralredaktion protestiert hatte, wurde er am Freitag suspendiert. Auch die Vorschläge des Politbüros vom Donnerstag seien nicht dazu angetan, die Verunsicherung zu dämpfen. In einer Entschließung hatte das Politbüro beschlossen, die Infrastruktur, den Wohnungsbau und die Industriestruktur in Berg–Karabach in den nächsten acht Jahren zu verbessern. Ferner sollen armenischsprachige Bücher in der Enklave leichter erhältlich und Denkmäler und Kulturgüter restauriert werden. Endlich wolle man dafür sorgen, daß auch in dieser Enklave armenisch–sprachige TV–Programme empfangen werden können. Gleichzeitig aber, so der Beschluß laut TASS, müsse man den „geringsten Erscheinungen von Nationalismus oder Mißachtung nationaler Gefühle von Angehörigen verschiedener Volksgruppen“ entschlossen entgegentreten. In einem Brief an Gorbatschow beklagt auch Nobelpreisträger Sacharow das Fehlen von Glasnost „ausgerechnet dann, wenn sie besonders notwendig ist“. „Die legitimen Bitten der armenischen Bevölkerung wurden als extremistisch bezeichnet.“