Die Autopsie eines Atomreaktors

■ Heute jährt sich zum neunten Mal der Unfall von Harrisburg / Die Aufräumarbeiten bargen immer neue Überraschungen / Warum der Unfall nicht zur Katastrophe wurde und der Reaktorkessel standhielt, kann auch heute noch niemand erklären / „Reinigung“ des Druckbehälters unter Extrembedingungen / Ende nicht abzusehen

Die New York Times bemühte außerirdische Vergleiche. „Nicht von dieser Welt“ erscheint ihr eine Szenerie, die sich seit bald drei Jahren Tag für Tag und Nacht für Nacht im Vierstundenrhythmus wiederholt: Eine Handvoll Gestalten in Raumanzug–ähnlicher Kluft, ausgestattet mit Atemschutzgeräten und klobigen Sicherheitsstiefeln bewegt sich durch eine Luftschleuse hastig auf eine kreisrunde Plattform aus Blei und Stahl. Dort macht sich die Gruppe an Hebeln und kleinen Kränen zu schaffen, starrt auf Monitore und tauscht Kommandos über Kehlkopfmikrophone aus. Nach vier Stunden verlassen die Gestalten den Ort so eilig wie sie gekommen sind. Neun Jahre nach dem schwersten bekanntgewordenen Atomunfall vor Tschernobyl sind die Aufräumarbeiten am Unglücksreaktor Three Mile Island bei Harrisburg einmal mehr in eine entscheidende Phase getreten. Bei über 2.800 Grad Celsius waren am 28. März 1979 siebzig Prozent des radioaktiven Inventars des Reaktors geschmolzen. Geschätzte 30 Tonnen liegen noch heute erstarrt am Boden des Reaktordruckbehälters. Diese gewaltige, hochradioaktive Masse schlug, knapp vier Stunden nachdem eine Kette von menschlichen und technischen Fehlern den Unfall ausgelöst hatte, einem weißglühenden, siedenden Sturzbach gleich, auf dem halbkugelförmigen Boden des Reaktordruckbehälters auf. Bis heute weiß kein Mensch, warum der Stahlbehälter dieser ungeheuren Belastung äußerlich standgehielt. „Warum floß der Kern nicht auf den Boden“, fragen sich die Experten. Einige Ingenieure warnen heute davor, dem Rätsel auf den Grund gehen zu wollen. Sie befürchten, daß der Kessel durch Hitze und Strahlung so spröde geworden sein könnte, daß er auseinanderfällt, wenn die Arbeiter mit ihren an 15 Meter langen Stangen befestigten Spezialwerkzeugen die erstarrte Schmelze über dem Boden des Reaktorkerns abzuhebeln versuchen. Dann würde das Wasser, das den strahlenden Trümmerhaufen bedeckt und neben der Blei–Stahl–Plattform die radioaktive Belastung der Arbeiter in Grenzen hält, schlagartig ins Reaktorgebäude stürzen. Trotzdem wurde nach über einjährigen Diskussionen entschieden, die Arbeiten fortzuführen, wenn alle 177 Brennstäbe, beziehungsweise ihre Überreste, abgetragen und unter Wasser in kleine Behälter gefüllt worden sind. Bevor jedoch die 30 Tonnen hochaktiver metallisch–keramischer Schlacke geborgen werden können, müssen die gitterförmigen Stahleinbauten entfernt werden, die einst im unteren Teil des Kerns zur Steuerung und Kühlung gedient hatte. Bis Mai 1989 sollte die „Reinigung“ des Reaktorkerns eigentlich abgeschlossen sein. An die Einhaltung des Zieldatums glaubt jedoch ernsthaft niemand mehr. Wieviele Opfer die jahrelange Prozedur fordern wird, wird man, wenn überhaupt, erst nach Jahrzehnten wissen. Nur jeweils eine von sechs Wochen dürfen die Arbeiter der Tätigkeit nachgehen, die sie „working in the pot“ nennen. Pro Stunde erhalten sie in diesen Perioden den Gegenwert einer Röntgenuntersuchung ihrer Brust. Das summiert sich auf zwei bis fünf Rem pro Jahr, eine Dosis, die nach neueren Erkenntnissen der Strahlenschutzexperten zu schweren Spätschäden führen kann. Manchmal, wenn versehentlich ein Stück des hochaktiven Brennstoffschrotts über die trübe Wasseroberfläche gerät, „schreien die Strahlenwerte auch über der schützenden Plattform regelrecht auf“, sagt einer der Betroffenen. Die Arbeit mit den langen Werkzeugen ist auch aktuell alles andere als angenehm oder ungefährlich. 466 Bohrlöcher wurden anfangs in eine obere erstarrte Schmelzschicht gedrillt, im Jargon der Arbeiter „Operation Schweizer Käse“, bevor der Weg in die tieferen Regionen des Reaktorkessels frei wurde. Nie dürfen größere Brocken der brisanten Mixtur aus Uran und Spaltprodukten aneinandergeraten. Sonst könnten sogenannte „kritische Massen“ entstehen und unkontrollierte Kettenreaktionen auslösen. Zeitweise stocherten die Arbeiter mit ihren Bohrern, Kneifzangen und Sägen wie blind in einem modrigen Feuchtbiotop herum. Hohe Temperaturen und das Licht der Unterwasserscheinwerfer hatten einen Nährboden für allerlei Algen, Pilze und Bakterien gebildet, die sich prächtig vermehrten. Mit Wasserstoffperoxid und anderen Chemikalien wurde man dieses Problems schließlich einigermaßen Herr. Die Hitze blieb. Und so begannen die Arbeiter große Mengen Eis in ihre doppelschichtigen Schutzanzüge zu füllen, um die Temperaturen erträglich zu halten. Ziemlich genau eine Milliarde Dollar haben die Aufräumarbeiten bisher verschlungen. Selbst wenn die „Reinigung“ des Kessels noch in diesem Jahrzehnt beendet werden sollte: Das Mahnmal von Harrisburg ist die weltweite Atomgemeinde damit nicht los. Derzeit werden die festen Überreste des geschmolzenen Reaktorkerns beim National Engineering Laboratory, auf dem Gelände eines ehemaligen Marineschießplatzes im US–Staat Idaho, zwischengelagert. Ein Endlager steht auch in den USA nicht zur Verfügung. Ungeklärt ist nach wie vor das Schicksal von über acht Millionen Litern zum Teil hochkontaminierten Wassers, das im Reaktorgebäude vor sich hinmodert. Die Betreiber wollen es am liebsten schlicht verdünnen und kontinuierlich in den Susquehanna River ablassen. Auf einer Insel in diesem Fluß befinden sich die drei Reaktoren von Three Mile Island. Schließlich harrt ein weiteres Problem seiner Lösung: Wie ein Schwamm hat der Beton am Boden des Reaktorgebäudes das freigewordene radioaktive Wasser aufgesogen. Ursprünglich darin enthaltenes radioaktives Cäsium–137 hat sich so nicht nur an der Oberfläche, sondern auch im Inneren der Mauern abgelagert. Alle Versuche, das Gebäude mit Hilfe von Robotern und Hochdruck–Wasserbestrahlung zu reinigen, sind fehlgeschlagen. Das Reaktorgebäude bleibt unbegehbar. Von Anfang an hatten die Verantwortlichen den Unfall von Three Mile Island unterschätzt. Der erste Schock traf sie, als man 1982 eine erste, winzige Kamera durch ein kleines Loch in den Reaktorkern hinunterließ. Auf den Monitoren bot sich ein trostloses Bild: Wo die Kernaufbauten und Brennstäbe hätten sein sollen, sahen die vollkommen überraschten Experten nur ein 1.5 Meter tiefes Loch und auf dessen Grund einen Trümmerhaufen aus ehemaligen Brennstabhüllen. Bis dahin hatte man angenommen, allenfalls einige wenige Stäbe könnten in Mitleidenschaft gezogen worden sein, als das Kühlwasser für Stunden absank. Mit jedem Schritt, den die Arbeiter mit ihren spinnenbeinigen Werkzeugen weiter in die Tiefen des Reaktorkerns vordrangen, mußten weitere Annahmen und Theorien über die Vorgänge während der entscheidenden Stunden aufgegeben werden. Eine Behauptung jedoch überlebte bis heute: Die immer wieder vorgebrachte Versicherung, daß im Gegensatz zur Katastrophe von Tschernobyl nur wenig Radioaktivität in die Umgebung gelangte. Doch der Verbleib von 66 Millionen Curie des kurzlebigen radioaktiven Jodisotops J–131 (Halbwertszeit: etwa acht Tage) ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Gerd Rosenkranz