Countdown auf kölsch

Während der Bundeskanzler in seinem großen Amt nahe dem Rhein auf dem Trockenen sitzt, herrschen im gegenüber gelegenen Beuel venezianische Verhältnisse. Auf fragilen Metallstegen balancieren die BewohnerInnen über den Wassern, klettern über Leitern, aufgetürmte Ziegelsteine und an Seilen durch die Fenster in die ersten Etagen ihrer Häuser. Im Erdgeschoß haben sich seit Sonntag die schmutzigen Fluten des Rheins breitgemacht. Die zahlreichen Sandsäcke und vor die Garagen geklebten Plastikfolien konnten die Wassermassen nur wenige Stunden aufhalten. Auch in Straßen, die vom Hochwasser direkt verschont worden sind, schwappt es aber mit sturer Regelmäßigkeit aus den Kellerfenstern: Mit dem Rheinpegel steigt auch das Grundwasser und sickert durch die Fundamente. Die Beueler ertragen die Überflutung mit stoischer Gelassenheit: Versicherungen und die Stadt Bonn tragen die Wasserschäden. Außerdem hat man Routine: Der Rhein tritt hier nahezu jedes Jahr über die Ufer. Was in Beuel schon Alltag ist, steht der Kölner Altstadt erst bevor. Stündlich klettert der Pegel um zwei Zentimeter. 9.68 Meter sind es am frühen Vormittag. Die nach der letzten Hochwasserkatastrophe von 1983 neu gekauften Metallwände, an denen sich die Flut staut, werden bei zehn Meter überschwemmt. „Dann füllt sich die Altstadt wie eine Badewanne“, prophezeit ein Feuerwehrmann. Bis es soweit ist, hat er allerdings ganz andere Sorgen: Der „Hochwasser–Tourismus“ hat den Innenstadtverkehr fast genauso lahmgelegt, wie es die Wassermassen selber tun werden, wenn sie die Zehn–Meter–Marke überschritten haben. Begierig, dabei zu sein, wenn „es“ passiert und zu faul, ein paar hundert meter zu Fuß zu gehen, stellen Kölner, Neusser, Bonner, Koblenzer und sogar Neugierige aus dem Sauerland ihre Autos ab, wo gerade noch ein Fleckchen frei ist: Feuerwehreinfahrten, Garagentore, Fußgängerüberwege - alles ist zugestellt. Während die Personenschiffahrt auf dem Rhein keine Mark verdient, ist der Personenkraftfahrzeug–Abschleppdienst in diesen Tagen eine Goldgrube. Ganze Kolonnen von Abschleppwagen arbeiten rund um die Uhr - und bieten denen, die sich am Wasser satt gesehen haben, eine zweite kleine Sensation. Als dann ein kleiner Fiat, dessen Handbremse nicht angezogen war, vom Schlepper angestoßen in die Menge rollt, wird die Stimmung lebendig und aggressiv. Man brüllt sich an, man lernt sich kennen. Am Rhein selber, wo ab und zu nur noch eine Telefonzelle und eine Plakatvitrine mit der Ankündigung „Rhein in Flammen“ aus den Wasser ragen, dominiert dagegen Fachgesimpel. Wie denn die hohen Stahlwände so dicht gemacht werden, daß kein Wasser durchkommt, will ein Siebzehnjähriger von seinem Vater wissen. Ein älterer Herr korrigiert die Antwort des Erziehungsberechtigten sofort und löst damit eine längere Debatte aus, bei der es um Dichtungen und Wasserdruck einerseits, um die Privatsphäre und das Recht auf Autorität andererseits geht. Den Altstadtwirten in den teuer gestylten Kneipen kann die Flut, solange sie nicht ganz hoch steigt, willkommen sein: Trotz Regenschauern und wenig frühlingshafter Kälte ist die Altstadt voller Menschen. Großer Gewinn und ziemliche Pleite liegen eben dicht beieinander. Für den Fall der Fälle, dessen Eintreten die Wasserstandsexperten mittlerweile für wahrscheinlich halten, wird aber auch schon vorgesorgt. Damit das Kölsch nicht noch wäßriger wird, als es ohnehin schon schmeckt, werden Stahlplatten vor den Fenstern montiert, Türen zugemauert, manche Kneipiers haben sogar ganz geschlossen: wg. Hochwasser. Nur eine keine hundert Meter vom Rhein entfernt gelegene Kneipe fällt zwischen den sandsackgeschützten, vermauerten und stahlgeschützten Häusern auf, weil bei ihr alles aussieht wie sonst auch: Sie heißt „Graf Luckner“. Das Kalkül des Wirtes ist klar: Ein „Seeteufel“ darf auch den Rheinfluten gegenüber keine Schwäche zeigen. Oliver Tolmein