Die Chicago–Boys von der Weichsel

■ Polens Wirtschaftsliberale: Die Demokratisierung darf nicht die „notwendige Anpassung“ des Lebensstandards an die ökonomischen Realitäten behindern / Im Vorfeld zu neuen Preiserhöhungen ist in der polnischen Opposition eine Debatte über Wirtschaftsreform und Demokratisierung entbrannt

Aus Krakau Klaus Bachmann

„Die Wirtschaftsreform entscheidet darüber, ob Polen ein von Krisen geschütteltes Land oder ein stabiler Faktor sein wird,“ meint Miroslaw Dzielski, Vorsitzender der unabhängigen Krakauer „Ökonomischen Industriellen Gesellschaft“. „Deshalb bin ich dafür, politische Forderungen nach mehr Demokratie etwas zurückzuschrauben, um die Wirtschaftsreform nicht zu gefährden.“ Dzielskis Meinung, geäußert bei der Diskussion eines informellen Warschauer Debattierclubs, blieb unwidersprochen. Polens gemäßigte Opposition um die Klubs der katholischen Intelligenz (KIK), die „Warschauer Ökonomische Gesellschaft“ und die Zeitschriften „Tygodnik powszechny“ und „lad“ (Ordnung) ist offensichtlich weiterhin auf der Suche nach einem Kompromiß mit der Regierung. Dzielski: „Dabei darf man auch vor der direkten Zusammenarbeit mit der Regierung nicht zurückschrecken.“ Der neue Trend, der im Gegensatz zu den radikaleren Gruppierungen in der immer noch verbotenen Gewerkschaft „Solidarnosc“ und der „Konföderation Unabhängiges Polen“ (KPN) steht, wurde durch ein Interview eingeleitet, das die neu gegründete Wochenzeitung „Konfrontacje“ im Februar mit dem Walesa–Berater Bronislaw Geremek führte. Geremek schlug darin einen Pakt gegen die Wirtschaftskrise vor, bei dem die Opposition die Unantastbarkeit des Systems in den Bereichen Militär, Innen– und Außenpolitik garantiert und die Regierung dafür gewisse Bereiche in Kultur und Wirtschaft öffnet. Ein solches Vorgehen böte die Möglichkeit, die Resignation der Gesellschaft zu überwinden, die ohne diese Öffnung alle Anstrengungen in Richtung auf eine Wirtschaftsreform zunichte zu machen drohe, hieß es in diesem Interview. Auch für die Regierung müßte der Zusammenhang von Erfolg der wirtschaftlichen Reformen und von politischen Zugeständnissen inzwischen klar geworden sein. Zahlreiche Betriebe mußten zum Beispiel angesichts von Streikdrohungen und Streiks weit höhere Kompensationen für die jüngsten Preiserhöhungen zugestehen als vorgesehen - und das ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Verträglichkeit. Viele Betriebe hatten damit den Lohnfonds derart überzogen, daß sich die Regierung zum Eingreifen gezwungen sah. General Jaruzelski verkündete am 22. März Sondervollmachten für die Regierung und drohte den besonders nachgiebigen Betriebsleitern die Entlassung an. Solche administrativen Maßnahmen aber laufen nach Meinung der gemäßigten Opposition ins Leere. Um die gesamte Gesellschaft für eine Reform zu gewinnen, die auch darin besteht, zunächst Einschränkungen des Lebensstandards zu akzeptieren, bedürfe es, so betonen inzwischen auch liberalere Parteifunktionäre, politischer Zugeständnisse. Enttäuschung über Wahlreform Eine wesentliche Rolle könnte dabei das Gesetz über die Wahl der Nationalräte ( die etwa unseren Gemeinderäten entsprechen) spielen. Wladislaw Silanowicki, oppositioneller Rechtsanwalt und Mitglied des die Regierung beratenden „Konsultativrats“, der das Projekt begutachtet hat, zeigt sich aber über die Ausführungsbestimmungen genauso enttäuscht wie Wladislaw Stomma, der ehemalige katholische Abgeordnete im „Sejm“, dem polnischen Parlament. Für beide bedeutet das Gesetz sogar einen Rückschritt. Zwar sehe das Gesetz Wahllisten vor, bei der die Wähler zwischen mehreren Kandidaten auswählen könnten, doch bliebe die Opposition weiterhin ausgeschlossen. Nur von der Regierung zugelassene Wahlvereinigungen dürften Kandidaten aufstellen und das sei nicht einmal ein Kompromiß. Sila–Nowicki: „Es ist unabdingbar, daß auch auf der untersten Ebene eine Opposition entstehen kann. Wenn die Leute tatsächlich autentische Vertreter auf der Gemeindeebene wählen könnten, dann würden sie selbst mehr ins Geschehen eingreifen und aktiver werden. Aber so, wie es jetzt ist, sollten lieber gleich der Bürgermeister oder der Wojwode (Vorsitzender eines polnischen Regierungsbezirks, bzw. Landes) die Gemeinderäte ernennen.“ Bislang hat die Regierung sich gegenüber solchen Argumenten noch wenig aufgeschlossen gezeigt. Zusammen mit Geremeks Interview erschien auch ein Gespräch mit Ludwig Krasucki, dem stellvertretenden Chefredakteur der Zeitung „Nowe Drogi“( Neue Wege), der Geremek eine kategorische Absage erteilte. „Die Regierung“, so der Chefredakteur, „ist das getreue Abbild der Gesellschaft.“ Es gebe zwischen der Regierung und der Gesellschaft keine Gräben, die überwunden werden müßten, erklärte er. Geremeks Vorschlag, einen Teil der Macht abzugeben, ist für ihn ein „Danaergeschenk“, das nur darauf abzielt, die politischen Ver hältnisse instabil zu machen. Die gemäßigte Opposition zeigt sich über diese Abfuhr jedoch nicht entmutigt. Für Stanislaw Stomma sind solche Widerstände „vorübergehende Probleme, wie sie in einer Übergangssituation unvermeidbar sind.“ Für ihn befindet sich Polen in einer Zeit großer Veränderungen. Es sei einfach unvermeidbar, daß sich die Reformanstöße Gorbatschows in Polen über kurz oder lang auswirken werden. „Die Ideologie ist schon abgestorben“, meint er mit Blick auf die Zurückhaltung von Partei und Medien in bezug auf die Verwendung marxistischer Formeln in der Propaganda. „Aber das muß nicht heißen, daß auch der Sozialismus am Ende ist. Es sind verschiedene Formen von Sozialismus möglich, wie etwa ein Wohlfahrtsstaat, der dennoch Freiraum läßt für individuelle Initiativen.“ Unterschiedliche Vorstellungen Wenn der katholische Professor damit zu erkennen gibt, einem Gesellschaftssystem wie dem schwedischen den Vorzug vor anderen Modellen zu geben, bedeutet es auch, daß heute in der polnischen Gesellschaft viele Intellektuelle die unterschiedlichsten Vorstellungen über die Form einer reformierten Gesellschaft öffentlich vortragen. Nicht alle sind so sozial und demokratisch eingestellt wie Stomma. Unter Polens Wirtschaftsliberalen zum Beispiel werden auch Entwicklungsmodelle propagiert, die ebenso wie die Partei einer Demokratisierung skeptisch gegenüberstehen. Eine Spielart: wie in Korea oder gar in Chile müsse man versuchen, über die Industrialisierung zu einer Demokratisierung zu kommen. Dzielski: „Es ist dabei die Frage, ob die Demokratie die Wirtschaftsentwicklung nicht auch hemmen kann.“ Pate solcher Ansätze scheint dabei der Gedanke zu sein, Polen müsse die vom Kommunismus übersprungene Industrialisierung mit aller Macht nachholen. Ob sich Polens Arbeiter allerdings davon überzeugen lassen, daß sie für den wirtschaftlichen Fortschritt einen ähnlichen Preis wie ihre koreanischen und chilenischen Kollegen bezahlen sollen, ist mehr als fraglich. Auch hat die Regierung und Partei deutlich gemacht, daß sie zwar ideologischen Ballast abwerfen wolle, aber keinesfalls um den Preis, zu derartigen kapitalistischen Zuständen zurückzukehren. Genau das aber wird Woche für Woche in den Spalten der katholischen Blätter wie „Lad“ und „Tygodnik Powszechny“ gefordert. In einem Punkt allerdings sind sich Wirtschaftsliberale wie Dzielski mit der Regierung einig: Allzu heftige gesellschaftliche Erschütterungen müssen vermieden werden. Doch der Spielraum der Regierung bleibt begrenzt. Nicht weil sie die Wirtschaftsreform fürchtet, sondern weil sie auf zu schwachen Füßen steht. Mit geradezu entwaffnender Offenheit kommentierte Daniel Passent, stellvertretender Chefredakteur der Parteizeitung „Polytika“ das Dlilemma: Die Partei sei zu schwach, um ein Stück ihrer Macht abgeben zu können.