: Zaghaftes neues Denken
■ Zukunftskongreß der IG Metall diskutierte Wertewandel und Verhältnis Individuum zu Kollektiv / Autoritärer Führungsstil unzeitgemäß / Offenheit blieb begrenzt
Von Martin Kempe
Sprockhövel (taz) - Natürlich war er da, obwohl er weder geladen noch physisch anwesend war. Der eigentliche Hauptakteur auf der Zukunftskonferenz der Industriegewerkschaft Metall zum Thema „Wertewandel, neuer Arbeitsbegriff, gewerkschaftliche Zukunftsstrategie“ hieß Oskar Lafontaine. Er beherrschte zwar nicht die Diskussion im Saal des IGM–Bildungszentrums in Sprockhövel, aber während der Pausen und auf den Gängen ging es nur und immer wieder um seine für die Gewerkschaften provozierende Infragestellung des vollen Lohnausgleichs bei beschleunigter Arbeitszeitverkürzung. Die IG Metall hat inzwischen ein Positionspapier dazu verfaßt, das am Rande des Kongresses bekannt wurde. Darin wird Lafontaine heftig angegriffen. So weit geht die „neue Beweglichkeit des Denkens“, die der IGM–Vorsitzende Franz Steinkühler in seinem Abschlußreferat forderte, bei den Gewerkschaften nun doch nicht. Dennoch wurden auf dem Sprockhöveler Diskussionsforum einige Elemente neuen Denkens sichtbar, an die sich die Gewerkschaften bislang nicht herangetraut hatten. Gedacht war die Konferenz als ein thematischer Baustein für die im Herbst dieses Jahres geplante große Zukunftskonferenz der großen Einzelgewerkschaft. Geladen waren Gewerkschaftsfunktionäre und Vertreter der kritischen Wissenschaft. Möglicherweise wegen des ungünstigen Termins fehlten einige wichtige Namen, vor allem auch aus dem grünen Spektrum, trotz Einladung auf der Anwesenheitsliste. Zwei Referate sorgten für Dis kussionsstoff, die den traditionellen Interessenbegriff der Gewerkschaften in Frage stellten. Der Bremer Soziologieprofessor Rainer Zoll erntete mit seinen Thesen zum gewandelten Verhältnis zwischen Individualität und Kollektivität bei Arbeiterjugendlichen heftigen Widerspruch aus dem Auditorium. Und die Frankfurter Frauenforscherin Professor Gerhard–Teuscher schrieb den Gewerkschaftsmännern ins Stammbuch: Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern bei der Aufteilung von Berufs– und Familienarbeit ist eben nicht möglich, ohne daß die Männer abgeben, also „noch mehr Konkurrenz, Verzicht auf tradierte und gewohnte Vorteile, auf Männerlöhne, selbstverständliche Posten und Karrieren, darüber hinaus ohne Zweifel mehr Belastung mit familiären Pflichten und privater Alltagsarbeit“. Möglich, daß diese Konsequenz in Sachen Gleichberechtigung den anwesenden Gewerkschaftsmännern noch zu fern war. Die Diskussion darüber, wie es möglich sei, die gesamte Sozialgesetzgebung von ihrer Anbindung an das (tendenziell männliche) Vollzeit–Normalarbeitsverhältnis zu lösen, Frauen zu gleichberechtigter Berufsarbeit und Männern zu gleichverpflichtender Hausarbeit zu verhelfen, verlief schleppend. Ähnlich wie bei der Frage des Lohnverzichts für höhere Lohngruppen ist für die männlichen Gwerkschaftsfunktionäre auch in dieser Frage eine Strategie gegen die Ungleichheit nur als Anhebung der Unterprivilegierten auf das Niveau der Bessergestellten denkbar. Immerhin dürfte schon einiges gewonnen sein, wenn die Gewerkschaften ihren Mitgliedern nicht nur die aus dem Lohnarbeitsverhältnis herrührenden grundsätzlich gemeinsamen, sondern auch die je nach Alter, Berufsqualifikation und Geschlecht äußerst unterschiedlichen Interessen zugestehen. Die von oben definierte, von der Führung den Mitgliedern übergestülpte Solidarität, der in den Gewerkschaften immer noch nicht überwundene autoritäre Führungsstil - das alles geht an den Menschen mit ihren durchaus unterschiedlichen Lebensvorstellungen vorbei, berichtete Rainer Zoll. Er plädierte für eine „individualistische Gewerkschaft“, die Unterschiedlichkeit zuläßt, das Individuum nicht dem Kollektiv unterordnet, sondern kollektive Aktion in den Dienst individueller Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen stellt. Diese Kritik an dem bisherigen Interessenverständnis der Gewerkschaften griff Steinkühler in seinem Referat auf: Man könne „die unterschiedlichen Interessen, die sich in den einzelnen Gruppen zusammenfinden, nicht einfach mit dem umfassenden Begriff der Solidarität zukleistern“. Es bleibe das Ziel der Gewerkschaft, gleiche individuelle Entfaltungsmöglichkeiten für alle, „nicht nur für eine elitäre Minderheit“ zu erkämpfen. Alle unterschiedlichen Gruppen müßten „mit ihren Anliegen und Interessen, auch mit ihren speziellen Kommunikationsformen“, in der Gewerkschaft zu Hause sein. Wenn diese allerdings gesellschaftsgestaltend wirksam sein wolle, müsse sie die „Einzelinteressen zusammenfassen zu oft mühevollen Kompromissen“ - die neue Unübersichtlichkeit in der IG Metall ist kein Tabu mehr.
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