Ein Land mit verschiedenen Geschwindigkeiten

■ Paris steht Kopf und die Provinz döst. Oder? Auch vor den Toren der Hauptstadt hat sich in den Jahren unter Mitterrand einiges verändert / Die erste Etappe der „Tour de Province“ der taz / Aus der Champagne berichtet Georg Blume

Zwischen Saint–Dizier und Chaumont, irgendwo in Frankreich, verläuft die Nationalstraße 67 entlang der Marne. Sie windet sich erst durch kleine Dörfer. In Fronville sind 35 Stundenkilometer erlaubt, zu recht, denn die Bauarbeiter mitten im Ort haben vergessen, Warnschilder aufzustellen. Am Ortsausgang aber staunt der Fahrer: Plötzlich wird die Landstraße zur Autobahn, ein ganzer Berg ist vom Asphalt durchschnitten, französische Höchstgeschwindigkeit (130km/h) ist angezeigt. Zwischen Saint–Dizier und Chaumont zieht die Nationalstraße 67 Bilanz der sieben Mitterrand– Jahre. Mitterrand–Frankreich ist ein Land unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Das Tempo zu halten ist hier ebenso unmöglich, wie die Durchschnittsgeschwindigkeit zu messen. In Chaumont fahre ich zunächst langsam. Die Präfekturstadt hat 25.000 Einwohner, der größte Arbeitgeber ist das Krankenhaus. Hinter der Hauptpost, in einem alten Backsteinhaus ist die Zeit stehen geblieben. Plakate aus den siebziger Jahren schmücken die Innenwände, zeugen offenbar von alten Kämpfen und Idealen, denn ihr Weiß ist längst verblichen. Von Selbstverwaltung, 35–Stunden–Woche und Arbeiterbewegung ist da die Rede: In Chaumont hat sich die CFDT, Frankreichs zweitgrößte, sozialistisch–orientierte Gewerkschaft, vom Zeitgeist nicht belehren lassen. „1981 haben wir aufgerufen, links zu wählen. Das war das letzte Mal.“ Michel Helle senkt den Kopf. Seit Mitterrand regiert, seit sieben Jahren, ist der Postbeamte Helle für die Gewerkschaftsarbeit freigestellt. Er jubelte, als die Linke ihre Sozialreformen durchsetzte, die 39–Stunden–Woche, den Ruhestand mit 60 Jahren, die fünfte Urlaubswoche, doch er weiß es heute besser: „Man hat uns reingelegt. Die Reformen rechtfertigten 1983 die wirtschaftspolitische Wende. Seitdem hat die Linke die Unternehmen rehabilitiert, was die Rechte nie geschafft hätte. Und seitdem wird vom Profit der Unternehmen nicht mehr gesprochen.“ Helle hat einen Zug verpaßt, den seine Gewerkschaft in Paris längst bestiegen hat. Die Huldigung des Unternehmens, die Verherrlichung der Technologie, die Wundersprechung durch eine teils erträumte, teils verwirklichte Modernisierung haben die CFDT im gleichen Maße wie die Sozialistische Partei in den achtziger Jahren erfaßt. „La France, qui gagne - das Frankreich, das gewinnt“ wurde 1986 zum Leitmotiv Franois Mitterrands in der politischen Auseinandersetzung vor den Parlamentswahlen. Heute sprechen die Präsidentschaftskandidaten von Europa vom vereinheitlichten Binnenmarkt. Jetzt endlich wird Michel Helle wütend. Er kann es nicht mehr hören, dieses Geschwätz. „Dem Frankreich, das gewinnt, folgen wir nicht. Von der Modernisierung sehen wir nur den Abfall, die Arbeitslosen, die, die übrig bleiben. Und im großen europäischen Markt sehen wir nur den Liberalismus auf allen Seiten blühen.“ Aber so kommt man in Chaumont nicht voran. Ich gebe Gas, und gläserne Türen öffnen sich. Draußen, vor der Stadt, steht der postmoderne Fabrikpalast der heimischen Firma Landanger. Griechische Säulen im Empfangssaal auf rosa Marmor, lila Samtteppich an den Wänden, und Renee Landanger tritt auf mich zu. Die zeitlose Chefin im Rentneralter lädt freundlich ein. Ihr rotes Baum wollkleid sitzt eng, die schwarz– seidenen Strumpfhosen glänzen. Alsbald steht ihr der junge Verwaltungsleiter Jean–Marc Nedelec zur Seite. Hier erlebt Frankreich seinen Traum. Das Unternehmen hat in den sieben Mitterrand–Jahren Westeuropa erobert, Fabriken in der Bundesrepublik und Spanien errichtet, den Umsatz verdreifacht und die Zahl der Angestellten allein in Chaumont verdoppelt. Gelenkprothesen und spezielles medizinisches Werkzeug stellt man her, die Produktion ist robotisiert, die Verwaltung informatisiert. „Bis zum geht nicht mehr“, sagt Renee Landanger. Europa, Technologie, Modernisierung, die Themen der Sozialisten in Paris finden in Chaumont ihr Echo bei Landanger. Dabei paßt Madame Landanger genau in jenes Bild vom französischen Patron, wie es die Linke einst vor Jahren beschrieben hat. Sie ist autoritär, paternalistisch, reaktionär. Ein Betriebsrat sei eigentlich dazu da, ein Tischtennisturnier zu organisieren, meint die Chefin - zum Glück gibt es bei Landanger keinen Betriebsrat. Dann aber passiert etwas Außergewöhnliches: Chefin und Verwaltungsleiter diskutieren offen über den Wahlkampf. „Die Linke wollte uns 1981 vernichten, und sie wird, gewinnt sie die nächste Wahl, von neuem beginnen.“ Renee Landanger macht die Fronten klar, doch hat offenbar nicht mit Widerspruch gerechnet. Jean– Marc Nedelec spricht nun schnell, von den Sozialisten, die viel gelernt hätten, von ihrer Betriebsge setzgebung, die die Arbeitnehmer beruhigt hätte, von ihren Verdiensten in der Sparpolitik, mit der man Streiks vermieden hätte. Nedelec ist überzeugt: „Die Freiberuflichen wählen heute links. Es waren die Sozialisten, die sie am meisten hofiert haben.“ Nach dieser Rede ihres jungen Verwaltungsleiters zögert Madame Landanger. „Ich werde trotzdem nicht für Mitterrand stimmen“, sagt sie dann, ganz als ob sie sich rechtfertigen müßte. Rechtfertigung aber wird in Mitterrand–Frankreich nicht mehr von ihr verlangt, einer Gewinnerin, rechtfertigen muß sich vielmehr der Postbeamte Michel Helle. Seine Gewerkschaftskollegen sind Beamte, Nutznießer, Privilegierte, wie es heißt, die in zehn Jahren acht Prozent reale Einkommenseinbußen hingenommen haben. Nun will die Pariser Rechtsregierung auch die Post privatisieren, und die Sozialisten sind dem seit langem nicht völlig abgeneigt. Schließlich will es „Europa“ so: nur in der Bundesrepublik und Frankreich liegen die Postdienste noch in der öffentlichen Hand. Michel Helle sagt: „Es ist nicht leicht, in Chaumont zu leben.“ Renee Landanger wäre anderer Meinung. Ich habe einen geliehenen Golf und verlasse die Stadt, zurück nach Saint–Dizier. „Hin– und Rückfahrt mit Halt auf der Mitte“ betitelt Le Monde ein Sonderheft über die Bilanz der Jahre Mitterrand. Ich aber weiß nicht: Liegt die Mitte zwischen Saint–Dizier und Chaumont auf der Autobahn oder in Fronville bei den Bauarbeitern?