P O R T R A I T Am eigenen Leibe ...

■ Nachruf auf Christel Neusüß

Am 2.April.1988 starb Christel Neusüß. Sie starb an Krebs, dem unendlichen Wachstum, das tötet. Vor der Zeit. Am eigenen Leibe erfuhr sie, daß das, was die Fortschrittskrieger der Natur antun, auf uns Menschen zurückschlägt, vor allem auf Frauen und Kinder, wie bei allen Kriegen. Ihre Krankheit brach kurz nach dem Jahrestag von Tschernobyl aus, den sie noch mit anderen Frauen in Berlin phantasievoll gestaltet hatte. Tschernobyl: Das hat sie nicht wegstecken können. Die Verzweiflung über die Zerstörung des Lebens und der Lebensfreude durch die „Väter der Vernichtung“ hat ihr den Weg gezeigt zu einem anderen Verständnis von Politik, von Widerstand. Sie hatte keine Lust mehr an den „machtvollen“ Demonstrationen der tapferen Kämpfer von der Anti–AKW– Front. Sie glaubte nicht mehr an die Männerkämpfe um die Macht, die Staatsmacht, die Wissenschaftsmacht, die Macht über das Leben. In ihrem letzten, unveröffentlichten Aufsatz: „Was ist das eigentlich: Energie. Und: Ist sie sterblich oder unsterblich?“ spottet sie: „Die Macht. Die Staatsmacht: Brust an Brust mußt du sie spüren, wenigstens die Polizei. Wie willst du Macht empfinden, wenn du nicht mit der Staatsmacht unmittelbar im Clinch bleibst? Und ich habe den Verdacht, bei Teilen alternativer Naturwissenschaftler und Ökonomen ist es ähnlich. Wie willst du die Macht zu machen empfinden, wenn du mit der herrschenden Wissenschaft nicht unmittelbar, Brust an Brust, im Clinch liegst? Experten gegen Experten ... „ Sie ging einen anderen Weg. Wie viele Frauen begann sie, ihren Alltag zu verändern. „Ich habe aufgehört zu rauchen, ich habe mein Auto abgeschafft und freue mich seit der Zeit an meiner freien Beweglichkeit ... Wir zetteln mit den Verkäuferinnen Gespräche an, wir legen uns mit Kindern und Ehemännern wegen des Fleischfres sens, der Tierquälerei und dem Hunger in der Dritten Welt an ...“ „Jeden Tag eine böse Tat.“ Dieser taz–Aufsatz hat viele, besonders Frauen, ermutigt, es ähnlich zu machen. Dabei ging es ihr immer um das Leben, die Lebenslust: „ ... Nein, keine magere Grausucht, schließlich haben wir nur dieses Leben, und das womöglich nicht mehr lange.“ Dabei hat Christel Neusüß diese Kämpfe auf der „linken Seite der Barrikade“ viele Jahre selbst mitgekämpft: in der Studentenbewegung, in der Gewerkschaftsarbeit, später in der AL. Ich habe sie erst 1983 kennengelernt. Das war, als sie zum ersten Mal am eigenen Leibe erfuhr, daß sie als Frau weder bei den männlichen Kämpfern selbst noch in der linken Theorie vorkam. Dabei hatte sie es viel länger in diesen linken Männerbünden ausgehalten als andere Frauen. Gründlich, wie sie war, alles zu Ende denkend, erfahrend, erleidend. Bis es nicht mehr ging, bis sie krank wurde. Dann kam sie zur Frauenbewegung und lernte den neuen Blick auf sich selbst, auf den Frauenkörper, nicht nur auf den Kopf, und vor allem auf die Frauenarbeit, die Mütterarbeit. Mit diesem neuen Blick war sie nun in der Lage, das Werk ihres geistigen Ziehvaters Marx noch einmal kritisch zu hinterfragen. Die Frauen– und Mütterarbeit kommt im Marxschen Arbeitsbegriff nicht vor: „Eigentümlich!“ schreibt sie, „Arbeitsmänner entspringen aus den Köpfen von Arbeitsmännern. Und wie wird ihre Arbeitskraft produziert? Überhaupt nicht. Ein bißchen Abfütterung in einigermaßen klimatisierten Hühnerställen reiche voll hin ...“ Und so wie mit den Frauen umgesprungen wird, wird auch mit der Natur umgesprungen: „Wir Frauen haben also festgestellt, daß in dem historischen Prozeß, in welchem die „Mutter Natur“ zunehmend als vernachlässigenswertes Etwas eingestuft wird, unsere Kreativität ... unsere lebensspendende Arbeit im Bereich Kinder und Küche dem Blick der gesellschaftlichen Erkenntnis entschwinden.“ Erkennen am eigenen Leibe Damit ist auch schon die letzte Etappe ihres Lebens– und Erkenntnisprozesses angedeutet. Gerade ihre tödliche Krankheit hat sie genutzt, am eigenen Leibe sozusagen, zu einer anderen Naturerkenntnis zu kommen. Eine Naturerkenntnis, die nicht auf der gewaltsamen Zerschlagung des lebendigen Zusammenhangs beruht, sondern, wie sie sagte, auf der „liebenden Anschauung der Natur“, auch des eigenen sterblichen Körpers. Sie hat sich geweigert, sich den üblichen, entfremdenden Krebstherapien auszuliefern. Statt dessen hat sie, zusammen mit Freundinnen, andere Leib und Seele zusammenhaltende Heilmethoden am eigenen Körper studiert. Viele kritisierten das. Doch sie hat auf diese Weise ihre lebendige Person, ihre eigene Würde bewahrt. Dazu gehörte auch der lebendige Zusammenhang von Freundinnen, den sie aufgebaut hatte, die mit ihr diese letzten Monate, Tage und Nächte teilten. So blieb sie bis zuletzt eine lebendige, denkende, fühlende, sterbliche Frau. Nicht verliebt in die Unsterblichkeit, sondern ins Leben. In ihrem letzten Aufsatz zitiert sie ihre Mutter, die gesagt hat: „Ich will nicht länger leben, ich will leben.“ Und sie fährt fort: „Und ich, ihre Tochter, will eine Wissenschaft, die geboren wird und sterblich ist, Gedanken, die mit dem sinnlichen Leben verbunden sind, ... die wahr sind hier für mich, für andere, in dieser Zeit, nicht für alle, nicht jenseits von Raum und Zeit, Leid und Irdischkeit.“ Maria Mies