Startbahnschüsse ohne Mordabsicht

■ taz–Recherche erschüttert Rebmanns Mordvorwurf / Spurensachverständige: „Der Schütze muß erheblich über die Köpfe gehalten haben“ / Die Bundsanwaltschaft bedient sich der Mordthese, um den Widerstand im Rhein–Main–Gebiet gegen die Startbahn West zu brechen

Von M. Kniesburges / T. Meyer

Der 2.November 1987 wird bis heute als Zäsur in der Geschichte der bundesrepublikanischen Linken gewertet: Erstmals, so konstatierten grüne, christliche und sozialdemokratische Politiker unisono mit der Bundesanwaltschaft, war aus einer Demonstration heraus gezielt auf Polizeibeamte geschossen worden. „Polizistenmord ist das schwerste Verbrechen überhaupt“, leitete Bundesinnenminister Zimmermann sein Drängen auf ein Demonstrationsverbot ein. Die Bundesanwaltschaft übernahm und lieferte die Konstruktion: „Gemeinschaftlich geplanter Mord aus einer verbotenen gewalttätigen Demonstration heraus“ - eine Premiere für den von Zimmermann erweiterten Paragraphen 129a erster Güte. Nach Recherchen der taz kann es sich an der Startbahn West nicht um „geplanten Mord“ gehandelt haben. Spurensachverständige der Polizei haben festgestellt, daß zwischen dem Standort des Schützens und der Stelle, an dem die beiden getöteten Polizisten zusammenbrachen, etwa 400 Meter liegen. „Wenn auf diese Distanz lebensgefährliche Körperpartien getroffen wurden, dann muß der Schütze erheblich, ganz erheblich über die Köpfe gehalten haben“, so der Schußwaffen–Experte Heinz J.Stammel. Denn, so erklärt Stammel, eine abgefeuerte Patrone fliegt keineswegs gradlinig in der Verlängerung des Schußarms, sondern sie zieht eine ballistische Kurve. Hätte der Schütze mit ausgestrecktem Arm gezielt in Richtung der Polizisten geschossen, die er in der Dunkelheit am Abend des 2.11., wenn überhaupt, allenfalls anhand der blitzenden Helme orten konnte, dann, so Stammel, wären die Geschosse in den Boden gefahren. Diese ballistische Kurve zu berechnen, das traut der erfahrene Fachmann Stammel jedoch nur versierten Sportschützen oder aber Waffeningenieuren zu. Geschossen wurde am 2.11. mit der Pistole des Typs Sig Saur–9 Millimeter, die einem Zivil–Polizeibeamten bei einer Demonstration in Hanau 1986 abgenommen worden war. Die zu dieser Waffe gehörende Munition vom Kaliber 9–Millimeter–Parabellum bezeichnet der Schußwaffenexperte Stammel als Gefechtspatrone, „wie sie auf allen Kriegsschauplätzen dieser Welt benutzt wird“. Eine solche Patrone - und das wissen die wenigsten - hat eine tödliche Reichweite von 1.200 Metern. Die Möglichkeit, daß über eine Distanz von mehreren hundert Metern noch von einer Zielgenauigkeit mit relevanter Trefferwahrscheinlichkeit ausgegangen werden kann, schließt Stammel völlig aus: „Nach 100 Metern hört jede Spekulation mit sicherem Treffen auf.“ Von weiten Schußdistanzen sprach Generalbundesanwalt Rebmann bereits am 3.11.87: „Die Schüsse müssen aus größerer Entfernung abgegeben worden sein.“ Die Bundesanwaltschaft, die auf einen Stab hochqualifizierter Waffenexperten zurückgreifen kann, muß längst wissen, daß angesichts dieser Bedingungen nicht von gezielten Schüssen ausgegangen werden kann. Dennoch hält sie an ihrer Konstruktion eines „gemeinschaftlich geplanten Mordes“ fest. Und das hat seinen Grund: Mit dem Mordkomplott einer „terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129a“ im Rücken konnte in den vergangenen fünf Monaten der außerparlamentarische Widerstand im Rhein–Main–Gebiet aufgerollt und ein weiterer Vorstoß zur Verschärfung des Demonstrationsrechts legitimiert werden. taz–Serie Teil 2 Hintergrundseiten 8 und 9 Kommentar auf Seite 4