Ortstermin bei der Colonia Dignidad

■ Die umstrittene deutsche Kolonie im Süden Chiles muß sich demnächst für einen Ortstermin öffnen / ai–Anwalt Corvalan zuversichtlich in bezug auf Beweisführung / Sektenführer beantragte die chilenische Staatsangehörigkeit / Untersuchung soll alte Vorwürfe klären

Aus Santiago Th. Nachtigal

„Sie werden uns vermutlich eine Art Theresienstadt präsentieren. Schließlich hatten sie zehn Jahre Zeit, sich auf diesen Besuch vorzubereiten. Trotzdem ist die Untersuchung ein wichtiger Schritt. Die Colonia ist nicht länger eine unantastbare, faktisch exterritoriale Insel in Chile.“ Für den Anwalt von amnesty international, Sergio Corvalan, seinen Kollegen Maximo Pancheco und die junge Untersuchungsrichterin Lidie Villagran sollen sich am Donnerstag, den 28. April, die scharf bewachten Lagertore der Colonia Dignidad für einen mindestens zweitrangigen Besuch öffnen. Gegen den vom Gericht der Provinzstadt Parral offensichtlich mit Zustimmung der Santiagoer Justizbehörden verfügten Ortstermin wird sich die Leitung des deutschen Lagers in den südchilenischen Kordilleren kaum wehren können. Allerdings kann die Visite der Richterin und der ai–Anwälte allenfalls ein erster Schritt zur Aufklärung der dunklen Vorgänge in der Colonia sein, wo Sektenchef Paul Schäfer seit nunmehr 27 Jahren diktatorisch über 300 deutsche Kolonisten herrscht. Unmittelbare Auswirkungen für das deutsche Lager wird die Besichtigung Ende April zunächst nicht haben, zumal Vorwürfe wie anhaltende Freiheitsberaubung der Kolonisten, sexueller Mißbrauch von Jugendlichen und Waffenhandel ausdrücklich nicht Gegenstand der Untersuchung sind. Trotzdem scheint auch eine Aufklärung näher zu rücken. Botschaftskreise bestätigen, daß das Auswärtige Amt Angehörige von gefangenen Kolonisten zu einer parallelen Klage vor deutschen und chilenischen Gerichten ermuntern, die dann ein Auslieferungsbegehren gegen Paul Schäfer und andere Dignidadführer nach sich ziehen könnte. Allerdings will man offensichtlich die Entscheidung der Bonner Staatsanwaltschaft abwarten, die in den nächsten Wochen über einen Haftbefehl gegen Schäfer befinden soll. Die Abwehrreaktionen der Sektenführung und ihrer deutschen wie chilenischen Freunde laufen auf Hochtouren. Um einer eventuellen Auslieferung zu entgehen, beantragte Schäfer gemeinsam mit seinem Leibwächter Gerhard Muecke und dem für Wirtschafts– und Polizeikontakte zuständigen Kurt Schellenkampf Anfang Februar die chilenische Staatsbürgerschaft. Er hätte sie nach Einschätzung hiesiger Beobachter bekommen, wenn nicht der deutsche Konsul Dieter Haller beim chilenischen Innenminister interveniert hätte. Eine solche Entscheidung, so machte er den Behörden deutlich, würde Bonn als Brüskierung empfinden. Der Untersuchungsauftrag beschränkt sich strikt auf die Klärung von Vorwürfen in einem inzwischen zehn Jahre alten Zivilverfahren der Colonia Dignidad gegen die Illustrierte Stern und die Gefangenenorganisation amnesty international vor dem Bonner Landgericht. Sie hatten Zeugenaussagen zusammengetragen, denen zufolge Dignidad nach dem chilenischen Militärputsch 1973 als Folterlager für Oppositionelle gedient hat. An den mit wissenschaftlicher Akribie durchgeführten Folterungen und Mord sollen nicht nur chilenische Geheimdienstagenten, sondern auch deutsche Spezialisten beteiligt gewesen sein. Die Kolonie klagte 1977 auf Unterlassung dieser Behauptung. Das Verfahren dümpelt vor sich hin, bis die KZ–ähnlichen Zustände in der Kolonie letztes Jahr erneut Schlagzeilen machten und Außenminister Genscher im Januar 1988 in einem Brief an seinen chilenischen Amtskollegen Aufklärung anmahnte: „Im Rahmen der Amtshilfe für das deutsche Zivilverfahren muß sich die Richterin nun auf einen Katalog von rund 100 Fragen beschränken“, erläuterte ai–Anwalt Corvalan. „Sie soll feststellen, inwieweit die Angaben der Folteropfer über Räume, Wege und Geräusche mit den Realitäten der Colonia übereinstimmen.“ Corvalan erwartet nicht, heute noch unterirdische Gefängnisse oder gar aussagebereite Zeugen vorzufinden. „Wir wissen, daß sie eine Reihe von Umbauten vorgenommen, ja sogar Zugangsstraßen verändert haben. Trotzdem bin ich zuversichtlich, daß wir Indizien finden.“