Die Bundesanwaltschaft im Meter–Roulette

■ Über fünf Monate nach den Schüssen an der Startbahn West gibt es ein weiträumiges Angebot unterschiedlicher Schußdistanzen Wo die sieben Polizisten, die durch Zwillengeschosse verletzt wurden, gelegen haben, weiß die Bundesanwaltschaft nicht

Von M.Kniesburges/T.Meyer

Berlin ()taz) - In dem Verwirrspiel, das die Bundesanwaltschaft (BAW) seit mittlerweile mehr als fünf Monaten um die Schüsse vom 2.11.87 an der Startbahn 18 rankt, steht bislang offenbar nur eines fest: Der Standort des Schützens. Dieser ist eindeutig markiert durch die drei eng beieinanderliegenden Stellen direkt hinter dem Gundbach, an dem insgesamt 14 Hülsen gefunden wurden. Vor dem Bach ziehen sich über 500 Meter hinweg flach ansteigend die Mönchbruchswiesen, am Abend des 2.11. bauchhoch mit Gras bewachsen. Wo genau auf diesem weitgestreckten Wiesengelände die mit scharfer Munition getroffenen Polizisten gefunden und möglicherweise auch getroffen wurden, dazu hat die BAW ein reichhaltiges, oder besser gesagt weiträumiges Angebot von Angaben auf Lager. Die bis heute der Öffentlichkeit präsentierten Zahlen der Schußentfernungen differieren nach den jüngsten Angaben, die BAW–Sprecher Prechtel am Mittwoch auf eine taz–Recherche hin präsentierte, im Rahmen einer Spannweite von rund 80 bis 614 Metern. Generalbundesanwalt Rebmann erklärte am 3.11.: „Die Schüsse müssen aus größerer Entfernung abgefeuert worden sein.“ Die Beamten seien „alle in unmittelbarer Nähe voneinander getroffen worden.“ Demzufolge müßten alle Beamten in einem Bereich getroffen worden sein, der mindestens 400 Meter vom Standort des Schützen entfernt am Ende der Mönchbruchswiesen in Richtung der Startbahn gelegen ist. Dies bekräftigte die BAW erneut am 5.11., indem sie erklärte, die getroffenen Beamten seien mit dem Abbau brennender Barrikaden beschäftigt gewesen und hätten so eine „prächtige Zielscheibe“ geboten. In diesem Bereich, und das bestätigte BAW–Sprecher Prechtel vorgestern erneut, brach der Polizei–Hundertschaftführer Eichhöfer am Abend des 2.11. tödlich getroffen zusammen. Dem Bonner Innenausschuß präsentierte die BAW im November andere Schußentfernungen: Dort war von 614, 160, 145 und 86 Metern die Rede. Schußdistanzen, die wiederum ganz erheblich von denen abweichen, die das Hessische Landeskriminalamt mittlerweile annimmt: Demnach beträgt die weiteste Schußdistanz 516, die darauf folgende zwischen 420 und 460 und die dem Gundbach am nähesten gelegene etwa 100 Metern. Den Grund für diesen Mangel an Überblick, erklärte ein Polizeibeamter der taz am Tag nach dem Tatabend: Die Lage der getroffenen Beamten sei am darauffolgenden Tag nicht mehr zu rekonstruieren gewesen, da die Verletzten in aller Eile ins Krankenhaus abtransportiert worden seien. Dennoch will BAW–Sprecher Prechtel sich nun auf die Schußdistanz von „rund 80 Metern“ festlegen, aus der der tödlich verletzte Polizeiobermeister Thorsten Schwalm sowie die zwei ebenfalls durch scharfe Munition verletzten Beamten Köhler und Teufer getroffen worden sein sollen. Diese drei Beamten, so Prechtel, seien in der ersten Reihe der Polizisten gegangen, die die DemonstrantInnen über die Wiesen auf den Bach zu verfolgten. Über 400 Meter vom Bach entfernt, aber in der gleichen Schußlinie sei der Hundertschaftführer Eichhöfer getroffen worden. Noch am 3.11. hatte die BAW erklärt, der tödlich getroffene Beamte Schwalm habe sich neben Eichhöfer, also über 400 Meter vom Gundbach entfernt befunden - die BAW wörtlich: „Der neben Eichhöfer befindliche 23jährige Polizeiobermeister Thorsten Schwalm.“ Davon geht auch der Zeuge aus, der der taz mehrfach erklärte, der Zeitpunkt, zu dem Eichhöfer zusammenbrach, differierte nur um wenige Minuten von dem Zeitpunkt, zu dem der zweite tödlich getroffene Polizist herangetragen wurde. Nur kurz darauf sei auch ein dritter Beamter mit einer Schußverletzung herangetragen worden. Nach Prechtels jüngster Version der Schußdistanz von rund 80 Metern zu drei Polizisten und über 400 Metern zu dem Hundertschaftführer Eichhöfer müssen die weiter vorne zum Bach hin getroffenen Beamten also in kürzester Zeit über eine Entfernung von rund 350 Metern unwegsamen, hoch bewachsenen Wiesengeländes transportiert worden sein. Wie das möglich gewesen sein kann, vermag der Sprecher der obersten Fahndungsbehörde bislang nicht schlüssig zu erläutern. Prechtel: „Das läßt sich so genau nicht mehr nachvollziehen.“ Genausowenig wie die Abfolge der Schüsse, die die Beamten trafen. Dazu der BAW–Sprecher nach langer Denkpause am Telefon zur taz: „Das wissen wir nicht.“ In der Tat, die Situation am Abend des 2.11.87 muß in erhöhtem Maße unübersichtlich gewesen sein. „Du mußt dir vorstellen, es wurden ja seitwärts noch viel mehr verletzte Polizisten vorbeigeschleppt als die Schußwaffenverletzten. Und unter der Polizei herrschte überaus große Verwirrung.“ All das in einem gespenstischen Szenario: Der Qualm der Strohballen und Barrikaden, Tränengasschwaden und die Leuchtraketen im Verein mit dem aufsteigenden Bodennebel erlaubten einen nur schemenhaften Einblick in das Gelände. Schwer verletzt wurden an diesem Abend nach Polizeiangaben insgesamt elf Polizisten, vier durch Schußwaffen und weitere sieben durch Zwillengeschosse. Wo diese sieben Beamten getroffen und aus welcher Entfernung sie folglich in den Bereich, in dem Eichhöfer zusammenbrach und der Abtransport der Beamten ins Krankenhaus erfolgte, herantransportiert werden mußten, dazu konnte BAW–Sprecher nichts sagen. Prechtel: „Uns interessieren nur die Schußverletzten. Wo die anderen Verletzten gefunden wurden, wissen wir nicht.“ So kann Prechtel auch nicht klären, ob möglicherweise Schußverletzte und durch Stahlkugeln getroffene Beamte beim Transport verwechselt wurden.