Özals Roßkur stößt auf Widerstand

■ „Wir hungern!“ war die Parole der jüngsten Arbeiterkundgebungen in der Türkei / Die neoliberale Wirtschaftspolitik von Ministerpräsident Özal senkt die Reallöhne teilweise unter das Existenzminimum / Gewerkschaften und Unternehmer warnen davor, sich Koreas Modernisierungspolitik zum Vorbild zu nehmen

Aus Istanbul Ömer Erzeren

„Özal bedeutet Teuerung“, „Die Inflation marschiert, das Volk blutet“. Mit solchen Plakaten demonstrierten vergangenes Wochenende rund 30.000 Teilnehmer einer sozialdemokratischen Kundgebung in Istanbul. Es sind zum größten Teil Arbeiter aus den Elendsghettos der Stadt, die an diesem Tag mit ihren Familien im Sonntagsanzug herbeigekommen sind, um gegen die Wirtschaftspolitik der türkischen Regierung zu protestieren. An wenigen Stellen der Rede des sozialdemokratischen Oppositionsführers Erdal Inönü herrscht Begeisterung bei den Kundgebungsteilnehmern, zum Beispiel dann, wenn Inönü vom „Sultanat der Özal–Brüder“ redet, die die Arbeiter der Ausbeutung einer Whiskey–trinkenden Klasse übergeben hätten. Die Austeritätsprogramme der Militärs und der Regierung Özal haben zu großen Einkommensverlusten bei den Arbeitenden geführt. Die Instrumente der Arbeiter, um sich dagegen zu wehren, sind ihnen weitgehend aus der Hand genommen. Der linke Gewerkschaftsverband DISK ist seit dem Putsch 1980 zerschlagen, das Streikrecht durch Verfassung, Strafrecht, Arbeits– und Gewerkschaftsgesetze zahlreichen Restriktionen unterworfen. So wachen Regierungskommissare über die innergewerkschaftlichen Entscheidungsprozesse, und jede politische Äußerung ist Funktionären bei Strafandrohung verboten. „1.Mai, 1.Mai“, ruft die Menge. Der von den Militärs verbotene 1.Mai, ehemals mit Massenkundgebungen von den Gewerkschaften gefeiert, symbolisiert die herrschenden Kräfteverhältnisse: Am 1.Mai jedes Jahres schwärmt die Polizei aus, um selbst kleinere Menschenansammlungen auseinanderzutreiben. Seit acht Jahren treibt Özal einen neoliberalen Strukturwan del in der Wirtschaftspolitik voran, der nach seiner Meinung jedem Bürger Wohlstand bescheren sollte. Doch die soziale Lage der Arbeiter ist trostlos. Die Reallöhne sind in einem Ausmaß gefallen, daß man sich davon nicht ernähren kann. Der staatlich festgelegte Mindestlohn beträgt 60.000 türkische Lira, umgerechnete 80,–DM im Monat. „Selbst wenn man an bestimmten Tagen nichts ißt, es ist unmöglich, mit dem Geld auszukommen“, meinte jüngst selbst der Vorsitzende der türkischen Handels– und Börsenkammer, Ali Coskun. Die inflationäre Entwicklung - das staatliche statistische Institut berechnet für den Monat März eine jährliche Inflationsrate von 69 Prozent - frißt die Löhne weg. Im Juni vergange nen Jahres konnte ein Arbeiter mit Mindestlohn noch 27kg Schafskäse kaufen. Im März dieses Jahres sind es gerade noch 15kg. Mittlerweile beginnen selbst Unternehmer vorsichtig Kritik an der Regierung Özal zu äußern. Sie befürchten bei einem weiteren Fall der Reallöhne soziale Unruhen. Wirtschaft auf Export getrimmt Insbesondere sind es die anstehenden Schuldenrückzahlungen, die Özal dazu veranlassen, die Inlandsnachfrage weiter zu senken und die Geldemission einzuschränken. Das türkische Kapital soll auf Export getrimmt werden, damit die Deviseneinnahmen steigen und die Türken bei den internationalen Bankiers Schulden zu rückzahlen können. Die Auslandsverschuldung der Türkei beläuft sich auf 41 Milliarden Dollar, jährlich stehen Rückzahlungen von sieben Milliarden Dollar an. Im Jahre 1987 betrug die Auslandsverschuldung 58 Prozent des türkischen Bruttosozialprodukts. Die Schuldenrückzahlungen vertilgen 54 Prozent der Exporterlöse. Doch die Hoffnung auf den Export–Durchbruch der türkischen Produkte auf den internationalen Märkten ist - trotz Unterstützung durch Steuermittel in Form von Krediten und Subventionen - trügerisch. Jüngst wurde bekannt, daß im Januar aus dem kleinen touristischen Dorf Kos an der Mittelmeerküste Exporte im Wert von 198 Millionen Dollar - ein Fünf tel der gesamttürkischen Exporte im Januar - getätigt wurden. Der Deal war gefälscht, es ging nur darum, die staatlichen Subventionen einzukassieren. Beispiele wie dieses werden häufiger publik. Ein beträchtlicher Teil der in der Zahlungsbilanz ausgewiesenen Exporte existiert nur auf dem Papier. Solche Meldungen in der türkischen Presse heizen die Stimmung in der Bevölkerung gegen Özal an. Selbst die Führung des rechten Gewerkschaftsverbandes Türk–Is, die nach 1980 sogar einen Minister ins Kabinett der Putschisten schickte und zusammen mit den Militärs die restriktive Arbeits– und Streikgesetzgebung ausgearbeitet hatte, fügt sich dem Druck der Basis und greift die Regierung Özal an. Erstmals in der Geschichte von Türk–Is rief die Gewerkschaftsführung im März zu einem eintägigen Boykott während der Mittagspause auf. 1,5 Millionen Arbeiter, die gesamte organisierte Arbeiterschaft, folgten dem Aufruf. Unerwartet starker Andrang herrscht auf den Kundgebungen des Gewerkschaftsbundes. „Wir hungern!“ gehört zu den Hautparolen der jüngsten Kundgebungen in der gesamten Türkei. „Hört auf diese Stimme“, warnte die große bürgerliche Tageszeitung Hürriyet die Regierung anläßlich der Aktionen von Türk–Is. Özal indes zeigt sich wenig beeindruckt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen der Aktionen von Türk–Is gegen die Gewerkschaftsführung. Ein Novum in der türkischen Geschichte, da Türk–Is stets mit den Regierenden kollaborierte. Modell Korea? Der neue Kurs der Türk–Is und die Aktivitäten der parlamentarischen Oppositonsparteien, der sozialdemokratischen Volkspartei unter Erdal Inönü und der Partei des rechten Weges unter dem konservativen Ex–Premier Demirel, haben dem Land seit Monaten eine wahre Kundgebungsflut beschert. Während die Sozialdemokraten hauptsächlich Arbeiterpublikum ansprechen, vermag es der konservative Politiker Demirel, die Bauern gegen Özals Wirtschaftspolitik zu mobilisieren. Die Preise für industrielle Inputs der Landwirtschaft, wie Kunstdünger, stiegen stark an, während die Agrarpreise stagnierten. Fast ausnahmslos erhält Demirel auf Kundgebungen in der Provinz mehr Zulauf als Özal. Die Opposition ist sich in dem Punkt einig, daß nur durch ein autoritäres Regime, die wirtschaftspolitische Roßkur, fortgesetzt werden kann. Selbst der konservative Demirel ist nicht sparsam mit Worten: „Özal dürstet nach dem Modell Korea.“