Wenig Hoffnung für Europas Arbeitslose

■ Treffen in Dublin zu den Perspektiven von Langzeitarbeitslosen in der EG / Trotz aller Beschäftigungspolitiken hat sich das Problem institutionalisiert

Aus Dublin Eberhard Seidel

Vom 29. bis 30.März 1988 veranstaltete die „Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens– und Arbeitsbedingungen“ in Dublin einen Workshop zum Thema: „Lokale Initiativen gegen Langzeitarbeitslosigkeit“ in der EG. Im Auftrag der Europäischen Gemeinschaft hat die Stiftung in den Jahren 1986 und 1987 ein Forschungsprogramm durchgeführt, das sich mit 20 Beschäftigungsinitiativen befaßte, die auf lokaler Ebene zur Unterstützung der Langzeitarbeitslosen in fünf Mitgliedsländern der Gemeinschaft (Belgien, BRD, Irland, Italien und Großbritannien) durchgeführt werden. Die Arbeitslosigkeit steigt seit Mitte der siebziger Jahre in der EG unaufhaltsam und liegt derzeit bei offiziell circa 16 Millionen. Realistische Schätzungen gehen allerdings von mehr als 25 Millionen Arbeitslosen in den zwölf Mitgliedsländern der EG aus. Die Langzeitarbeitslosigkeit von mehr als zwölf Monaten nimmt seit Anfang der 80er Jahre sprunghaft zu. Heute ist bereits jeder zweite Arbeitslose länger als ein Jahr ohne Job. Clive Purkiss, Direktor der „Europäischen Stiftung“, zeichnete ein düsteres Szenario. „Alle Prognosen deuten darauf hin, daß der relativ neue Prozeß der Langzeitarbeitslosigkeit bis zum Ende des Jahrhunderts vor allem in den alten Industriegebieten, den ländlichen Regionen der EG und der Verarbeitungsindustrie Dauerzustand bleiben wird.“ „Das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit“, so Purkiss weiter, „hat sich an allen nationalen Programmen zur Vollbeschäftigung und an den vielfältigen Beschäftigungsmaßnahmen vorbei institutionalisiert.“ Die Zahlen sind beeindruckend, ebenso die geschilderten psychosozialen Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit auf die Betroffenen und das Ausmaß der Verarmung in den am meisten betroffenen Regionen. Aber ein akuter Handlungsbedarf, die Lage zu verbessern, bestehe nicht, da die Arbeitslosigkeit sich in der EG nicht als politisches Problem äußert. „Es wundert mich immer wieder, weshalb es so wenig Ärger über die Arbeitslosigkeit gibt, die sich öffentlich manifestiert“, äußerte Colin Ball, einer der Organisatoren der Tagung. Arbeitslose als Versager? Werner Löw, Arbeitgebervertreter aus der BRD und Mitglied des Wirtschafts– und Sozialkomites der EG, wundert die Ruhe unter den Arbeitslosen nicht. „Zumindest in der BRD ist die Motivation zur Arbeit nicht sehr groß, da die Sozialhilfesätze nicht sehr viel geringer als die Mindestlöhne sind“, wußte Löw zu berichten. Für ihn ist die Langzeitarbeitslosigkeit ein persönliches Problem von Menschen, die aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen, Suchtprobleme haben oder ein sonstiges Handicap. Trotzdem unterstütze er die Bemühungen der Beschäftigungsinitiativen, da schon allein aus humanitären Gründen etwas für den „Bodensatz der Gesellschaft“ getan werden müsse. Aber man solle auch nicht allzu viel von den Beschäftigungsinitiativen erwarten, die mit 300.000 bis 500.000 Beschäftigten nur einen kleinen Teil der Arbeitslosen in der EG erfaßten. Diese Einschätzung wird von den Ergebnissen der EG–Studie relativiert. Denn die 20 untersuchten Initiativen leisten vor Ort sinnvolle Arbeit. Nicht nur würden Langzeitarbeitslose zum großen Teil wieder an Arbeit herangeführt, sondern es werde durch kulturelle Aktivitäten gleichfalls vermieden, daß sich die Kluft zu den Beschäftigten zu sehr vergrößert. Eddie Kerr, Mitarbeiter einer Beschäftigungsinitiative im irischen Derry, berichtete allerdings, wie die Finanzierungsinstrumentarien der Regierung dazu benutzt werden, um politische Ruhe zu erkaufen. „Solange wir als Zentrum für Arbeitslose arbeiten und individuell betreuen, haben wir keine allzu großen Finanzierungsprobleme. Aber wir kommen in unserer Arbeit immer wieder an den Punkt, nicht nur etwas für die Arbeitslosen zu tun, sondern etwas gegen die Arbeitslosigkeit. Wir haben Familien in Derry, die seit drei Generationen ohne festen Job sind. Da ergibt es sich von selbst, daß wir in unserer Arbeit politische Initiativen der Arbeitslosen unterstützen müssen, ihnen organisatorische Hilfe bei Kampagnen geben. Wenn wir mit den Arbeitslosen zu stark gegen die Arbeitslosigkeit kämpfen, kommt es sehr schnell zum Konflikt mit der Regierung, die uns dann das Geld sperrt.“ Eddi Kerr bezweifelt den längerfristigen Nutzen der Beschäftigungsprogramme. „Ein kurzfristiges Beschäftigungsprogramm löst nicht die Probleme der Struktur der Arbeitslosigkeit. Nicht die Arbeitslosen sind das Problem. Vielleicht sind die Probleme in London oder Tokio zu suchen. Eddi Kerr forderte dazu auf, sich nicht so sehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie die Langzeitar beitslosen psycho–sozial betreut werden könnten, sondern wie gut bezahlte Arbeitsplätze eingerichtet werden können. Zwei Modelle Die Forderung nach dauernder Beschäftigung erhob auch Ulrich Nüsse vom Beschäftigungsprojekt „Die Umwelt–Werkstatt“ des Diakonischen Werkes in Recklinghausen. Seine Erfahrung aus der Arbeit in der „Werkstatt“, die zur Zeit 143 Dauerarbeitslose im Recycling–, Umweltschutzbereich und Handwerksbereich beschäftigt: „75 Prozent unserer Mitarbeiter sind nach Ende der Maßnahme wieder arbeitslos.“ Die über ABM und Bundessozialhilfegesetz finanzierten und für ein bis zwei Jahre Beschäftigten malern, schreinern und gärtnern für „bedürftige“ Arbeitslose, Rentner und Sozialhilfeempfänger. Trotz ihrer ohne Zweifel sinnvollen Arbeit stoßen die Werkstätten auf Vorbehalte der privaten Wirtschaft, Gewerkschaften und der Stadtverwaltung. Die lokalen Verbände von Handwerk, Handel und Industrie sehen in den Werkstätten die Gefahr einer unlauteren Billigkonkurrenz für ihre Mitgliedsfirmen. Die Werkstätten sehen die Wirkung ihrer Arbeit für die Arbeitslosen darin, daß die bisher Arbeitslosen ihre materielle Situation verbessern können und neue Ansprüche auf Arbeitslosengeld erwerben. Das „Sozialpädagogische Institut“, Träger und Promoter diverser Beschäftigungsprojekte in Berlin, diskutiert dagegen, inwieweit es sinnvoll ist, Arbeitslose um jeden Preis mit einer Beschäftigung beglücken zu wollen, die ihnen dann doch keine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt bietet. Ihr Ansatz entwickelt sich langsam dahin, die Beschäftigungsprogramme zu nutzen, um den Arbeitslosen Qualifizierungsmöglichkeiten zu bieten. Das heißt, die arbeitsfreie Zeit nicht als Stigmatisierung zu empfinden, sondern als Chance der Persönlichkeitsentfaltung. Vom Ansatz, Arbeitslosigkeit auch als individuelle und gesellschaftliche Chance zu begreifen, war bei den in Dublin versammelten Experten noch wenig zu spüren. Hier herrscht noch die Idee der Vollbeschäftigung in den Köpfen vor. Und die Vorstellung, daß in unserer Gesellschaft nur der glücklich werden kann, der auch über einen Arbeitsplatz verfügt und sein Einkommen daraus bezieht.