Sprengstoffanschlag erschüttert Neapel

■ Attentat auf ein US–Offizierskasino fordert fünf Tote und 15 Verletzte / Der Anschlag fällt auf den 2.Jahrestag des amerikanischen Luftangriffs auf Libyen / Bislang nur Rätselraten über Täter und Tatmotiv / Bevölkerung entsetzt

Aus Neapel Werner Raith

Gerade knappe zweihundert Meter mißt Neapels Calata San Marco, eine Gasse eher als eine Straße, am oberen Ende eine kleine Piazza ohne Namen; doch unvorstellbar, was sich auf diesem kleinen Raum an Angst, Verzweiflung, Verbitterung zusammenzuballen vermag. Als wir knappe zwei Stunden nach der ersten Meldung des Attentats auf ein US–Veranstaltungszentrum ankommen, holen die Feuerwehrmänner noch immer verstörte Frauen und Männer aus ihren Schlupfwinkeln heraus, in die sie sich geflüchtet hattem, weil sie eine neue Explosion befürchteten. Gegen elf Uhr, mehr als drei Stunden nach dem Anschlag, hören wir durch den eher noch zunehmenden Lärm an– und abfahrender Einsatzwagen und eingeschalteter Radios und Fernseher hoch oben am Palazzo zwischen der Calata San Marco und der Piazza Municipio Schreie. Eine junge Frau ist, keiner kann sich vorstellen wie, an der Fassade bis zum zweiten Stock hochgeklettert und droht nun vor Erschöpfung herunterzufallen. Nur mit Mühe bekommen die Feuerwehrmänner Platz für ihr Sprungtuch und eine Leiter. Neapel, sonst durchaus an den alltäglichen Tod durch seine durchschnittlich mehr als dreihundert jährlichen Camorra–Opfer gewohnt, spürt plötzlich eine neue Qualität von Angst: bisher kannte man vor allem den gezielten Mord präziser Schüsse auf ein ausgewähltes Opfer, wo allenfalls einmal ein Querschläger Unbeteiligte erwischt hat: Sprengstoffanschläge waren bislang weitgehend unbekannt. Neapel hatte sich in dieser Hinsicht während der zurückliegenden Jahre links– und rechtsextremistischer Anschläge als weitgehend „terrorfrei“ gefühlt. Klar scheint zunächst nur, daß das Ziel des Anschlags der „USO– Club“ war, ein Offizierskasino in der Calata San Marco, das bei besonders feierlichen Anlässen für Empfänge diente, und in dem an diesem Abend mit rund 100 Gästen die Besatzung des US–Kriegsschiffes US–PAUL gefeiert wurde. „Daß man da zumindest einige Amerikaner zu erwischen hoffen konnte“, bemerkt der Carabiniere, der die Absperrung weiter nach vorne zieht, „ist doch klar. Doch sie haben fast nur Italiener umgebracht“. Nach den Stunden dauernden Identifizierungen steht fest, daß vier der fünf Toten Einheimische sind, das fünfte Opfer ist Puertorikanerin, eine Angehörige der US–Marine. Unter den 15 Verletzten befinden sich auch Amerikaner. „Wahrscheinlich war der Ort des Attentats für eine Fernzündung ungünstig“, vermutet der Polizeichef der Stadt Antonio Borell - sein Büro liegt gleich nebenan - gegen Morgen, als Zeugenaussagen bereits zu einem ersten Steckbrief für einen jun gen, angeblich asiatisch aussehenden Mann führen, der etwas auf den Rücksitz des dann explodierten weißen Ford Fiesta gelegt haben und schnell davongelaufen sein soll: Die Explosion war so gewaltig, daß Spurensicherungskommandos sogar auf der Rückseite des immerhin fünfstöckigen Palazzos noch Teile hochgegangener Autos und Fetzen von Kleidungsstücken finden. Passanten berichten, daß es sogar auf der dreihundert Meter entfernt liegenden Piazza Municipie einen „wahren Regen harter Gegenstände“ gegeben habe. An der Autobahnabfahrt Fuorigrotta zehn Kilometer entfernt warnte mich der Mautbeamte, „da reinzufahren, weil es da gerade ein Erdbeben oder sowas gegeben hat“. Natürlich hat das Rätselraten um die Urheber des Anschlags bereits Minuten nach der Explosion eingesetzt. Da bis zum nächsten Morgen Bekennerbriefe ausblei ben (gegen sechs Uhr empfing der staatliche Rundfunk RAI lediglich einen kurzen Spruch: „Hier wurde Gerechtigkeit geübt. Es lebe das libysche Volk“), war auf Mutmaßungen angewiesen: Könnte der zweite Jahrestag des amerikanischen Überfalls auf Libyen der Grund für den Anschlag gewesen sein? Oder waren afghanische Rebellen am Werk, die die kurz zuvor in Genf erfolgte Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den UdSSR ablehnen? Oder Störer der sogenannten „Friedensmission“ von Außenminister Shultz in Israel? „Alle können es gewesen sein“, antwortet entnervt gegen Mitternacht auf die sicherlich hundertste Frage der Einsatzleiter der Polizei. „Unsere Leute, eure Leute, Libyer, Israelis, was weiß ich denn.“ Gegen Morgen weicht die Frage nach dem Urheber des Attentats immer mehr den Überlegungen, die latent bereits von Anfang an mitschwangen, die man sich aber in der Stadt offenbar erst langsam zu stellen getraut: Wie konnte das gerade in dieser Zone geschehen, nahe dem Hafen, wo faktisch jede Bewegung, jede Regung von den überall herrschenden Camorra–Banden kontroliert wird? Bevölkerung wie Ermittler waren sich bisher absolut sicher gewesen, daß in dieser Stadt nichts ohne die Zustimmung des allmächtigen organisierten Verbrechens geschehen kann. Hat die Comorra doch die Hand mit im Spiel? „Das fehlte gerade noch“, flucht einer der Sicherungsbeamten, „daß sich hier auch noch andere Gangster zu tummeln beginnen.“ Das klingt, als habe man bei den sogenannten Ordnungskräften bisher eher auf die ordnende Hand der camorristischen Banden als auf die eigene Kapazität gebaut - und fürchte nun den Verlust des wertvollen Flankenschutzes.