Neues Westliches Denken

■ Wird der SDS–Ausschluß aus der SPD zurückgenommen?

Heidemarie Wieczorek–Zeuls Anregung, die SPD solle den Ausschluß des SDS von der SPD (1961) aufheben, liefe auf mehr als Kosmetik und Symbolik hinaus und könnte als Zeichen einer bewußten Wiedergutmachung verstanden werden. Die 68er Revolte fiel nicht vom Himmel, die Verstoßung des SDS zählt zur Vorgeschichte und war Teil des planvoll betriebenen Rückzugs der SPD von antifaschistischen Nachkriegspositionen, wozu die Abkehr vom Kurs gegen die Wiederbewaffnung zählt. Die Partei, die Adenauers Aufrüstung mittrug, suchte sich innerer Oppositionen zu entledigen. Die Verstoßung des SDS setzte ein Zeichen der essentiellen Wende zum Neomilitarismus. Von da an stand Staatstreue über Prinzipienfestigkeit, galt Parteidisziplin mehr als Solidarität und Aufrüstung mehr als Freiheit. Vom Ausschluß des SDS zu den Berufsverboten war nur ein kurzer Schritt. Erst wurde der SDS verstoßen, um der Partei Ruhe zu verschaffen, bald verstießen die kritischen Jugendlichen und Intellektuellen die unkenntlich werdende Partei. Die spätere APO und noch die heutigen Grünen wurzelten und wurzeln mehr in den damaligen SPD–Disziplinierungsbeschlüssen, als ihnen bewußt war und ist. Als wir 1961, dem SDS zu helfen, in Frankfurt einen SDS–Förderverein gründeten, gaben die Professoren Kantorowicz und Heydorn sowie ich eine Erklärung ab, in der wir vor den Folgen der SPD–Parteivorstandspolitik warnten und alle kritischen Potenzen darum baten, mit uns den heimatlos gewordenen SDS zu unterstützen. Wir verbündeten uns mit Niemöller und kritischen Christen wie Gewerkschaftern und, bei allen ideologischen Differenzen, mit Kommunisten und bestärkten die Ostermarschbewegung. Die Studentenrevo SPD–Fehler. Der sozialdemokratische Opportunismus war der Pate der Abwendung. Heidemarie Wieczorek–Zeuls Anregung, den SDS– Ausschluß aufzuheben, hilft dem SDS nicht, der sich 1970 selbst auflöste. Sie könnte gleichwohl als Zeichen eines ernsthaften Kurswechsels aufgefaßt werden, als Signal der notwendigen linken Einigung im Prinzipiellen, auch als Würdigung der Opfer, die der fatale sozialdemokratische Rechtsschwenk forderte - man denke nur an Prof. Peter Brückner, seine Verfolgung und seinen frühen Tod, und das ist kein Einzelfall. Die SPD lebte seit ihrem Kniefall vor Adenauers Wiederaufrüstung vom ständigen Abbau ihrer eigenen politischen und moralischen Positionen. Gorbatschows Neues Östliches Denken gibt der SPD die historisch einmalige Chance, wieder sie selbst zu werden: progressiv, links, freiheitlich, pazifistisch, konstruktiv, kreativ. Heidemarie Wieczorek–Zeul kann jetzt zeigen, ob sie dem gutwilligen Signal, das sie gab, Taten folgen lassen kann und will. Die Frankfurter und südhessische Sozialdemokratie, die ein Schattendasein fristet, könnte Farbe bekennen und das Neue Westliche Denken und Tun realisieren. Man wird sich dabei freilich von manchen alten liebgewordenen Gewohnheiten trennen müssen und neue Töne, Farben, Ideen, Charaktere und Zivilcourage benötigen. Die SPD als alte preußische Unterordnungspartei hat keine Zukunft in einer Zeit, in der selbst die stalinistischen Ordnungsparteien auf grundlegenden Wandel setzen. Die Revolution der Köpfe ist angesagt. Gerhard Zwerenz, Schriftsteller