Die neue Linke in der Sowjetunion

■ Die Perestroika läßt bereits 30.000 Blumen blühen: Überall schießen unabhängige Gruppen aus dem ausgedörrten Boden der Sowjetgesellschaft / Sozialistische Klubs, Umwelt– und Jugendgruppen als zweites Standbein Gorbatschows? / Wurzeln in der unabhängigen Jugendkultur zu Beginn der achtziger Jahre

Von Steffi Engert

Mangel an „Luft zum Atmen“ diagnostizierte Gorbatschow in der Sowjetgesellschaft. Also verordnete er „Glasnost“ und Demokratisierung. Frischer Wind und der eine oder andere eiserne Besen fegen seither durch Behörden, Betriebe, Redaktionsstuben und die Gremien der Partei. Eigeninitiative ist plötzlich gefragt. Das ließen sich viele nicht zweimal sagen. Nicht nur alte Hasen des Untergrunds machen sich die neuen Spielräume zunutze. Überall schießen „unabhängige Gruppen“ aus dem Boden, sozialistische Klubs, Umweltinitiativen und Jugendgruppen prägen diese östliche Regenbogenbewegung, in der sozialistisches Rot und ökologisches Grün dominieren. Die erste Konferenz progressiver Gruppen, die im August 1987 mit offizieller Genehmigung in Moskau stattfand, endete mit der Gründung von zwei sich ergänzenden Dachverbänden: der Assoziation „Kreis sozialer Initiativen“ und der „Föderation der sozialistischen Clubs“. Der „Kreis“ vertritt allgemein demokratische Forderungen. Die „Föderation“ ging weiter und nahm eine explizit sozialistische Gründungserklärung an (s. Dokumentation auf dieser Seite). Wo tausend Blumen blühen, kommen leider auch Sumpfblüten zum Vorschein. Rückwärtsgewandte, z.B. antisemitische Ansichten sind das Merkmal der Gruppe „Pamjat“ (Gedächtnis), von der sich die Progressiven scharf abgrenzen. Inoffizielle Gruppen gibt es in der Sowjetunion schon seit den sechziger Jahren. Nachdem das Chruschtschowsche Tauwetter einem neuen Frost weichen mußte, entwickelte sich die „Dissidentenbewegung“, um die fehlenden Menschenrechte einzuklagen. „Samizdat“ ist das Wort, das damals aus dem sowjetischen Sprachgebrauch im Westen übernommen wurde. Es bezeichnet die „selbstverlegten“ Untergrundschriften, mit den SowjetbürgerInnen unter großem persönlichen Risiko versuchten, ihre ZeitgenossInnen wahrheitsgemäß über die eigene Gesellschaft zu informieren. Diese Bewegung war ursprünglich politisch heterogen. Erst die militärische Intervention gegen den Prager Frühling und anschließend gezielte, ausgesucht harte Repressionen gegen die „Linken“ (z.B. Grigorenko) verengten die politische Vielfalt. Übrig blieb die „liberale“ Strömung, die auf - mindestens publizistische - Hilfe aus dem Westen setzte. Insgesamt umfaßte die Dissidentenbewegung nur wenige Individuen und Gruppen. In Rußland blieben sie obendrein gesellschaftlich isoliert. In den anderen Gebieten wirkte die „nationale Frage“ solcher Isolation entgegen. Die selbständige soziale Bewegung heute kann aber keineswegs als organische Nachfolgerin der Dissidentenbewegung angesehen werden. Aktiv ist vielmehr eine neue Generation mit anderen, radikaleren politischen Ansichten und zum Teil mit anderen Themen. Diese Bewegung verdankt ihren Ursprung nicht erst der Perestroika. Vielmehr entstand bereits Anfang der achtziger Jahre eine Jugendkultur außerhalb der vorgegebenen Kanäle. Ihr Kennzeichen war die enge Verknüpfung von Rockmusik und Politik, die Infragestellung der Werte und des Lebensstils der Elterngeneration, ähnlich wie bei uns in den sechziger Jahren. Dieses Milieu entwickelte sich, wenigstens in den Hauptstädten Rußlands und der westlichen Unionsrepubliken, zur ernsten Konkurrenz für den offiziellen Jugendverband, den Komsomol. Die Obrigkeit reagierte mit Verboten: Gruppen wie „Mosaik“, „Aquarium“ oder „Kino“ durften nicht auftreten, ihre Musik wurde in Diskotheken des Komsomol nicht gespielt. Unter Gorbatschow verschwanden solche Beschränkungen stillschweigend. Die Gruppen können mittlerweile im Fersnehen auftreten. Während der letzten zweieinhalb Jahre entfaltete sich die neue Bewegung. Offizielle Angaben sprache Ende 1987 von ca. 30.000 Initiativen. Das reicht von Gruppen, die sich in erster Linie um konkrete, z.B. ökologische oder stadtplanerische Fragen kümmern bis hin zu Ansätzen von politischen Organisationen. Leider haben wir keine Nachrichten über feministische Gruppen. „Dreißigtausend Initiativen“ Die ökologische Bewegung schaffte es zuerst, mit spektakulären und erfolgreichen Aktionen in die Schlagzeilen zu kommen. Eine Gruppe von StudentInnen besetzte 1986 den Schtscherbakov– Palast, ein Bauwerk aus dem 17. Jahrhundert, das abgerissen werden sollte. Sie schafften es, die Besetzung zwei Monate lang aufrechtzuerhalten. Kirill Parfenow, ein Vertreter der Gruppe, konnte im Fernsehen auftreten. Die BesetzerInnen machten öffentlich, daß die offizielle Gesellschaft für Denkmalschutz völlig unter der Kontrolle russischer Nationalisten steht, die sich mehr mit antisemitischen Kampagnen beschäftigen als mit historischen Gebäuden. Der Palast blieb stehen. In Leningrad gelang es dem „Rat für Kulturökologie“, einen breiten und wirksamen Protest zu organisieren, als das alte „Hotel Angleterre“ abgerissen werden sollte. Im Zusammenspiel ökolgischer Gruppen und angesehener Literaten wie Valentin Rasputin konnte auch der Plan zu Fall gebracht werden, die riesigen, nach Norden fließenden sibirischen Ströme umzuleiten, um die zentralasiatischen Steppen zu bewässern. Andere kamen jedoch zu dem Schluß, daß es damit nicht getan ist, einzelne Probleme aufzugreifen. Namentlich Leute, die wie der Journalist Gleb Pavlovskij oder der Soziologe Boris Kagarlitzkij schon im Untergrund der Breschnew–Zeit aktiv waren (und dafür bestraft wurden), bemühen sich um eine aktualisierte sozialistische Strategie. Der von ihnen mitbegründete „Klub der Sozialen Initiativen“ (KSI) gehörte daher zu den Initiatoren der Moskauer Konferenz im vergangenen August, mit der drei Ziele erreicht wurden: eine bessere Verständigung und Koordination der überall isoliert voneinander entstandenen Initiativen und besonders der sozialistischen Gruppen; die eigenständige, das heißt auch kritische Unterstützung der Perestroika von „unten“ und eine Kampfansage gegen rechte Organisationen wie „Pamjat“. Während die unabhängigen linken Gruppen ihr Verhältnis zur Perestroika - KPdSU klar bestimmt haben, gilt das umgekehrt nicht. Der offizielle Kurs läuft im Zickzack. Dabei mischen sich Furcht vor unkontrollierbarem „Extremismus“ mit Hilflosigkeit, weil es keine Erfahrungen gibt, sich positiv auf politische Eigeninitiative zu beziehen. So stellte die Moskauer Parteiorganisation für die August–Konferenz Räume zur Verfügung. Den offiziellen Vertretern wurde es aber bald mulmig, als nämlich radikale Forderungen und Ansichten diskutiert wurden, und die VeranstalterInnen fürchteten daraufhin, daß die Konferenz vorzeitig abgebrochen würde. Das wiederum hatte übrigens den positiven Nebeneffekt, den harten Streit der anwesenden Gruppen zu schlichten.