Wie wird Israel nach 50 Jahren aussehen?

■ Vierzig Jahre nach seiner Gründung steht der Staat Israel außen– wie innenpolitisch vor düsteren Perspektiven / Die übergroße Mehrheit in Israels Parlament ist eingeschworen auf die bisherige Politik: Festhalten der besetzten Gebiete und enge Bindung an die USA

Aus Tel Aviv Amos Wollin

„Ich bin in einem Kibbuz aufgewachsen, und dort war der Staatsfeiertag immer ein erhebendes Erlebnis. Erst später, während meiner Militär–Dienstzeit, fragte ich mich, was wir eigentlich feiern: Wir sind doch weder unabhängig, noch leben wir bei so viel Unsicherheit frei. Heute glaube ich, daß unser Staatsfeiertag ein Symbol unserer Befreiung von der bri tischen Herrschaft ist. Aber eigentlich feiere ich den Zwei– Staaten–Beschluß der Vereinten Nationen, der die Grundlage für unsere Staatsgründung im Mai 1948 war. Ich weiß heute, daß erst die Gründung eines palästinensischen Staates an Israels Seite auch uns, ja: den beiden Völkern dieses Landes, die Grundlage für wahre selbständige Entwicklung bei friedlichem Zusammenleben geben wird.“ Diese Aussage der 26jährigen Inbal ist bestimmt nicht die einer „typischen jungen Israeli“ der Gegenwart, aber zum Ausdruck kommt hier die Meinung vieler Beobachter, die nachdenklich geworden sind. Die Mehrzahl der jüdischen Bürger Israels bleibt jedoch blind für die dringende Notwendigkeit, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Nach vierzig Jahren und einem halben Dutzend Kriege steht Israel vor der Wahl: weiterhin Sparta zu spielen und weitere Kriege zu riskieren, oder mit internationaler Hilfe mit seinen arabischen Nachbarn Frieden zu machen. Israel kann nicht auf die Dauer als „unsinkbarer Flugzeugträger der USA im Nahen Osten“ (Walter Mondale, ehemaliger Vizepräsident der USA), als amerikanischer Gendarm fungieren. In der Vergangenheit ließ sich einwenden, daß die arabischen Staaten und die Palästinenser den israelischen „Eindringling und Fremdkörper“ nicht akzeptieren wollten, ihn bedrohten und bekämpften. Seit geraumer Zeit hat sich dieses Verhältnis umgekehrt - die Israelis weisen die Friedenshand der Palästinenser zurück und wollen keinerlei Verhandlungen mit der PLO führen. Siege und militärische Übermacht haben Israel politisch blind gemacht. Die seit dem Sechs–Tage–Krieg 1967 bestehende Tendenz des beharrlichen Festhaltens der besetzten Gebiete und die totale Ablehnung einer friedlichen Lösung mit dem palästinensischen Nachbarvolk bleiben immer noch Grundlage des „nationalen Konsens“ der bestehenden großen Koalition: Likud, Arbeiterpartei, religiöses Lager. Der Volksaufstand in den besetzten Gebieten und die Entwicklung in der arabischen Welt weisen jetzt darauf hin, daß die von Israel angestrebte Aufrechterhaltung des Status quo zu einem neuen Krieg führen und verheerende Folgen für Israel und seine Umgebung haben wird - davor warnt zum Beispiel Reservegeneral Aharon Jariv, Chef des strategischen Forschungsinstituts in Tel Aviv. Die zweite Gefahr für Israel bedroht die eigene Gesellschaft und deren demokratische Institutionen von innen: Der extreme Pola risierungsprozeß ist mit zunehmender Brutalisierung verbunden. Willkür und despotische Gewalt, die in den besetzten Gebieten üblich sind, machen sich immer stärker in Israel selbst breit. Demoralisierung und Erosion der Demokratie als Folgeerscheinung des Besatzungs–Regimes helfen eine Konstellation zu erzeugen, die leicht zum Bürgerkrieg führen kann. In einem Interview mit der Jerusalem Post sagte der 77jährige ehemalige Oberstaatsanwalt Haim Cohn: „Wir hatten einmal einen Traum: daß wir eine Gesellschaft, ein jüdisches Land aufbauen, wo jeder Jude mit seinesgleichen in Frieden lebt, wo man einander respektiert, auch wenn es Meinungsdifferenzen und Glaubensunterschiede gibt. Was mich sehr traurig stimmt, ist, daß wir den Pluralismus des Judentums hier nicht verwirklichen konnten. Statt dessen herrscht Intoleranz...“ Der liberale Experte für jüdisches Recht ist entsetzt über das Überhandnehmen des religiösen und nationalen Fanatismus: „... die ärgsten Formen des Faschismus und eine Katastrophe für Israel“. Nicht nur der jüdische Fundamentalismus ruft Haim Cohns Entsetzen hervor. „Der arabischen Bevölkerung (Israels) haben wir nur formell Gleichberechtigung versprochen. Weil wir die Araber ungerecht behandeln, haben wir weder Frieden noch Aussicht auf Frieden. Und das wiederum ist der entscheidende Grund für unsere unansehnliche Existenz, es ist der Hauptgrund für enorme Auswanderung: Die Leute hier haben den ewigen Kampf eben satt.“ Israel ist in den 40 Jahren seiner Existenz zum militärisch stärksten Staat des Nahen Ostens geworden. Aber das führt auch dazu, daß nahezu drei Viertel aller Mittel im Staatshaushalt militärischen Zwecken oder der damit verbundenen Schuldentilgung zufließen. Israels Abhängigkeit von finanzieller, militärischer und politischer Hilfe der USA ist von Jahr zu Jahr gewachsen. Im vierten Jahrzehnt seines Bestehens hat Israel ein strategisches Abkommen mit Washington abgeschlossen und hilft Reagans „Starwars“–Programm zu verwirklichen. Im Auftrag der amerikanischen Regierung hat Israel wichtige neokolonialistische Aufgaben in Ländern der Dritten Welt übernommen - überall dort, wo die USA aus verschiedenen Gründen nicht selbst und direkt Waffen liefern oder sonst zur Unterstützung reaktionärer Militärregime beitragen können. All dies trägt dazu bei, Israel aus seinem natürlichen Hinterland, aus der Umgebung des Nahen Ostens herauszuheben und im engsten Verbund mit Washington von der übrigen Welt zu isolieren. Versteinert bleiben die außenpolitischen Konzeptionen der Israel– Regierung hinter den neuen Entwicklungen in der Weltpolitik zurück. Die innere Opposition war und bleibt zu schwach, um Änderungen zu bewirken. In der Knesset steht sie einer 90prozentigen Mehrheit der „Nationalen Einheits–Koalition“ gegenüber, die noch durch eine Reihe rechtsextremer Fraktionen verstärkt wird. Zwar haben die brutalen Unterdrückungsmethoden des Verteidigungsministers Rabin (“Partei der Arbeit“) zu einer Vielzahl neuer Protestbewegungen gegen Besatzung und zum Teil auch für realistische Friedenskonzepte geführt. Professor Noam Chomsky (Boston) - ein Kenner Israels - mußte feststellen: „In Wirklichkeit gibt es in Israel kein organisiertes Element - auch nicht peace now -, das in seinem Gewicht vergleichbar wäre mit der Bereitschaft der PLO, den internationalen Konsens für eine realistische Friedenslösung zu akzeptieren.“ Die „Ablehnungsfront“ USA– Israel beeinflußt den „Hauptstrom“ der israelischen Friedensbewegung: „Peace now“ ist zur Zeit bestenfalls eine Art „Lobby“ für die Arbeiterpartei, die sich mit George Shultz Nahost–Initiative identifiziert. Neuwahlen in Israel werden das Bild nicht wesentlich ändern. Angesichts dieser traurigen Wirklichkeit kann wohl einer weiteren Eskalation bis zum Ausbruch eines neuen NahostKriegs nur durch gemeinsame Schritte der Großmächte im Rahmen der Vereinten Nationen vorgebeugt werden. Tertium non datur.