Im gesamteuropäischen Erlebnisspielraum

■ Ab heute ist West–Berlin bis zum Jahresende „Kulturstadt Europas 1988“ / Von Gabriele Riedle

Kaum hat sich Berlin von der Mammutfeier zum 750. Stadtjubiläum (“B 750“) in einem kurzen Winterschlaf leidlich erholt, da wird auf Beschluß der Kulturminister der Europäischen Gemeinschaft kulturell noch einmal nachgerüstet. Während die Minister davor schon Athen, Florenz und Amsterdam jeweils für ein Jahr zu „Kulturhauptstädten“ gekürt hatten, wurde Berlin allerdings das feierunwürdige östliche Haupt der Medusa abgeschlagen.

„Wir wollen keine spektakulären Gastspiele“, tönte es aus den Reihen des veranstaltenden Berliner Kultursenats noch zur Jahreswende. Hatte man doch den Besucherschwund gegen Ende des vergangenen Jubiläumsjahres noch in unangenehmer Erinnerung. Mittlerweile steht fest: Auch dieses Jahr kommen sie alle wieder: Hans Jürgen Syberberg, Bernard Sobel, Robert Wilson, Tadeusz Kantor, George Tabori, Andrzei Wajda, Juri Ljubimow, Jan Kott, Achim Freyer, Joseph Beuys (), Harald Szemann, Michael Jackson, Gidon Kremer, Philip Glass, Laurie Anderson, Mikis Theodorakis, Joe Jackson, Augusto Fernandes, Merce Cunningham, alles, was an Schriftstellern Rang und Namen hat, Michael Bogdanov, die New English Shakespeare Company, „die bedeutendsten Dirigenten der Gegenwart“. Nur einer hat abgesagt: Karajan. Die ewige Wiederkehr der Gleichen füllt nicht nur die hohlen drei Oberslogans zum Kulturstadt–Programm - „Berlin - Ort des Neuen“, „Werkstatt Berlin“ und „Berlin in der Mitte Europas“ - sondern wohl auch die Theater–, Ausstellungs– und Konzertkassen. Sie bringt die „lieben Berliner und ihre Gäste“ in die entsprechende festliche Stimmung, zu der das Auf– und Abgewoge der zahlenden und bezahlten Besu cher nunmal auch gehört. Berlin als Ort des Neuen mags zwar dieses Jahr modern. Dennoch setzt die vielbeschworene Spontaneität des Handelns „einen Vorrat an historisch angemessenen Ausdrucksmöglichkeiten voraus“ (Wawrzyn). „Das mykenische Hellas. Heimat der Helden Homers“ mit seinen Goldgefäßen, „Kaiser Augustus und die verlorene Republik“ als Übergang zum „Goldenen Zeitalter“ und die „Schätze aus dem Topkapi Serail - Süleyman der Prächtige“, deren Goldgehalt alles übertrifft, sind die drei maßstabsetzenden „Ausstellungen zu den Wurzeln der europäischen Kultur“. Sie stehen hier für die Kontinuität feierlicher Pracht. So kann man getrost zum ernsten Teil der Veranstaltung übergehen, nämlich zum Benefiz für ideenlose Berliner Künstler und für die innovationsfreudige Berliner Wirtschaft. Hinter dem Motto „Werkstatt Berlin“ verbergen sich nicht nur allerlei Intensivkurse in Tanz, Regie, Dramaturgie und Musikinterpretation mit prominenten Gästen, die für einige Wochen in der Stadt verweilen und den Berlinern ihr Handwerk beibringen, dazu jede Menge im Strandbad Wannsee und vor dem Reichstag zur Schau gestellte lebende Bildhauer, eine kulturpolitische Konferenz als „Zukunftswerkstatt“ zur Entwicklung eines „kulturellen Netzwerks für Europa“. Vor allem geht es in der „Werkstatt“ um Projekte aus dem Bereich der angewandten Künste, namentlich Mode und Design zur Ankurbelung der seit einiger Zeit im Gründungsfieber befindlichen Wirtschaft. Und deshalb gilt hier die Devise des Leiters der Design– Werkstatt, Christian Borngräber: „Nicht feiern, sondern arbeiten!“ Im Mittelpunkt des „hemmungslosen Experiments“ (Borngräber) steht das Möbeldesign. Hier sollen die 15 teilnehmenden auswärtigen und einheimischen Designer und Designergruppen zum einen Kurzseminare für den Nachwuchs an der Berliner Hochschule der Künste abhalten. Vor allem aber sollen sie Prototypen für den öffentlichen Bereich, wie Büros oder „Wartezonen“, zur weiteren „Verhübschung des Stadtraums“ (Hermeneutikkommando Jakob Taubes über den Skulpturenboulevard auf dem Ku– Damm) entwickeln, die zunächst im Kaufhaus Wertheim ausgestellt werden und anschließend am Industriestandort Berlin in Serie produziert werden können. Selbstverständlich wird auch hier, streng anti–amerikanisch wie schon der neuinstallierte Europäische Filmpreis, der Europäische Design–Preis verliehen. Noch zwei Preise verleihen der Kultursenator für die Gestaltung von Sportpreisen sowie der Landessportbund und die Sportjugend Berlin für die Gestaltung für Diplome und Sportpokale. Deren gelungenste Exemplare wiederum will Karstadt unter dem Motto „...mal ganz oben stehen!“ ausstellen, denn bei der Kulturolympiade soll sich Leistung nun wirklich ganz konkret wieder lohnen. „Kunst, die mit Wirtschaft zu tun hat, halten wir für sehr wichtig“, bekannte denn auch Kultursenator Volker Hassemer (CDU) freimütig in Sachen Modedesign. So stellt die Berliner Textilindustrie das Material für die Modewerkstatt, bei der 50 ModeschülerInnen aus West– und Osteuropa zusammen mit Gaultier, Kenzo und anderen Berühmtheiten Modelle entwickeln sollen. Drei von ihnen werden nicht nur auf einem Modefest ausgezeichnet, sondern, so geht das Gerücht, anschließend auch unter dem Namen der Mentoren verkauft. Wichtigstes Ereignis im Bereich der Mode ist das „Dressater“, das die Berliner Strickliesl Claudia Skoda schon als Warenzeichen schützen ließ, bei dem heute und in den nächsten Tagen im ehemaligen Hamburger Bahnhof Musik, Film, Video, Tanz, Oper und Performance eine „ungewohnte Verbindung“ eingehen. Ungewohnt durfte hier vor allem die Verbindung von Avantgarde und Spießigkeit sein, denn neben den verschiedenen Modellen aus London, Madrid, Tokio, Dublin, Mailand, Budapest und Berlin stellt die Hommage an den verstorbenen US–Berliner Designer Rudi Gernreich seinen legendären Oben–Ohne–Badeanzug vor. Skoda: „Wir haben sehr lange überlegt, ob wir das wirklich machen sollen, und uns dann doch dazu entschlossen.“ Außerdem beteuert sie: „Es ist nicht alles untragbar, was wir zeigen.“ Hassemer hingegen - nach den Querelen um den Skulpturenboulevard in Sachen „Kunst im öffentlichen Raum“ didaktisch erfahren - betont, daß es auch hier darum gehe, „Formen der Kunst mit den Medien der Mode zu präsentieren, so daß Kunst erfahrbar wird“. Sein Plädoyer „für die Erkennbarkeit der Kunst im Modebereich“ signalisiert indessen, daß sich der inzwischen stadtbekannte und beliebte „Erlebnisraum“ auf den eigenen Körper zusammengezogen hat. Nach den flächendeckenden Fassadenrenovierungen des letzten Jahres fordert Skoda nun: „Weg vom grauen Pullover hin zum Kleid, zum Kleid an sich.“ Wie wahr!