Armenier gedenken der Toten von 1915 und 1988

■ Massenkundgebung in Sowjetarmenien / Tausende halten die Erinnerung an den Völkermord im Osmanischen Reich und an die Toten beim jüngsten Pogrom in Sumgait wach / Fluchtbewegung von Aserbaidjan nach Armenien / 2.000 Demonstranten auch in Moskau

Aus Moskau Alice Meyer

Tausende Armenier sind am Sonntag in Eriwan am „Mahnmal des Völkermords“ zusammengeströmt, um die Erinnerung an den Genozid wachzuhalten, bei dem zwischen 1915 und 1918 über 1,5 Millionen Armenier des Osmanischen Reichs ermordet wurden. Am 24. April 1915 waren in Konstantinopel an die 600 führende armenische Persönlichkeiten verhaftet worden. Im Mittelpunkt der diesjährigen Gedenkfeiern in der Hauptstadt Sowjetarmeniens stehen aber auch die Opfer des Massakers, das aserbaidjanische Nationalisten am 28. Februar in Sumgait verübt haben. Nach offiziellen Angaben waren dabei 32 Menschen umgekommen und 197 verletzt worden. Am Sonntag mittag war die Lage in Eriwan ruhig. Die Sicherheitskräfte blieben unsichtbar. Das massive Aufgebot an Polizei und Miliz, das am 26. März Demonstrationen verhinderte, war nach dem Streikabbruch im zu Aserbaidjan gehörenden autonomen Gebiet Berg–Karabach, dessen Bewohner den Anschluß an die Republik Sowjetarmenien fordern, abgezogen worden. Auch auf dem armenischen Friedhof in Moskau versammelten sich rund 2.000 Menschen zum Gedenken. Nach Augenzeugenberichten versuchten rund 400 Personen, anschließend zur türkischen Botschaft zu marschieren. Die Polizei habe jedoch mit Mannschaftswagen die Straßen gesperrt. Am Majakowski–Platz habe es ein Handgemenge gegeben; anschließend seien die Demonstranten jedoch friedlich auseinandergegangen. Über Festnahmen wurde nicht berichtet. Der stellvertretende Ministerpräsident Armeniens, Mowsisjan, gab in einem Interview bekannt, daß bis Ende März allein aus Sumgait rund 2.700 Menschen nach Armenien - vor allem in die Hauptstadt Eriwan - geflüchtet seien. Auch aus Berg–Karabach habe es eine Absetzbewegung nach Armenien gegeben. Der Vize–Pemier ließ durchblicken, daß alle Versuche, die Armenier zur Rückkehr an ihre früheren Wohnsitze in Aserbaidjan zu bewegen, bisher fehlgeschlagen sind. Auch das Versprechen hoher Regierungsfunktionäre, die Gewalttäter von Sumgait würden zu „strenger Verantwortung“ gezogen, konnte daran nichts ändern. Die Zeugen der blutigen nationalistischen Pogrome in Sumgait sind heute noch gezeichnet von den Schreckensbildern. Augenzeugenberichte und Details über die Ausschreitungen fanden bisher keinen Eingang in die Spalten der sowjetischen Zentralpresse. Dagegen werden immer wieder Beispiele angeführt, denen zufolge Aserbaidjaner „unter eigener Lebensgefahr“ Armenier vor dem Zugriff der Gewalttäter gerettet und in ihren Wohnungen Zuflucht gewährt hätten. Das „Karabach“– Komitee wird beschuldigt, mit Drohungen und Erpressungsversuchen gegen armenische Regierungs– und Parteiorgane vorgegangen zu sein. Vor seiner Auflösung soll es selbst nach offiziellen Angaben der Staatsmacht „mehrere Hundert“ Basisorganisationen und Zellen in Betrieben, Verwaltungen usw. gehabt haben.