Vorwärts und schnell vergessen...

■ Zwei Jahre nach dem Super–GAU: geordnete Katastrophenbewältigung im Namen von Glasnost / Abkehr vom Atomprogramm nicht gefragt / Tschernobyl–Aufarbeitung in der Sowjetunion unbeliebt bis unterdrückt

Berlin (taz) - Für Jurij Stscherbak markiert der Super–GAU von Tschernobyl „das einschneidendste Ereignis im Leben meines Volkes seit dem Großen Vaterländischen Krieg“. In der Literaturzeitschrift Junost veröffentlichte der sowjetische Mediziner und Journalist Gespräche mit Bewohnern und Arbeitern aus dem Kraftwerk, Feuerwehrleuten und Ärzten. Sein Fazit: „Diese paar Monate haben uns die Augen geöffnet, haben uns um eine Epoche reifen lassen. Wir sind entschiedener geworden und stellen größere Anforderungen an uns selbst und an alle diejenigen, die Entscheidungen zu treffen haben, die über Menschenleben und über die Natur bestimmen.““. Die Wahrheit vom vergangenen Sonntag legt jedoch das Gegenteil nahe. Zum zweiten Jahrestag der Katastrophe berichtet die Prawda über Schlampereien bei den Aufräum– und Reparaturarbeiten, über Suff und Disziplinlosigkeit in Tschernobyl. „Es geht zu, als hätte es das Unglück nicht gegeben“. Der Parteizeitung zufolge wurden nach dem 26. April 1986 Leute mit Führungsaufgaben betreut, die dafür nicht ausgebildet waren. Andere seien zuvor aus der Partei ausgeschlossen worden oder hätten eine kriminelle Vergangenheit. Ärzte, Tierärzte und Lehrer seien als Techniker eingesetzt worden. Reparierte Maschinen seien mit „schweren Mängeln“ wieder in Betrieb gegangen. Während von Flensburg bis Konstanz ungezählte Aktionen zum Tschernobyl–Jahrestag anlaufen, bemühen sich die sowjetischen Behörden um geordnete GAU–Bewältigung. Der alltägliche Schlendrian wird im Namen von „Glasnost“ bloßgestellt. Die Atomtechnik selbst bleibt aus der Schußlinie. Der Zeitung Sowjetskaja Kultura zufolge wird ein Buch des Leiters der Tschernobyl–Informationsabteilung, Alexander Kowalenko, nicht vor 1989 gedruckt, weil angeblich Papier und Arbeitskräfte fehlen. Das ukrainische Fernsehen habe außerdem Kowalenkos Vorschlag abgelehnt, eine weltweit ausgestrahlte Sendung über Tschernobyl zu produzieren. Hans Blix, schwedischer Generaldirektor der Internationalen Atomenergie–Agentur (IAEO), meinte zum Jahrestag, die Umweltfolgen seien nicht so schlimm gewesen wie die von Wasserkraft und Kohle. Den „Fallout“ in Europa stufte er als „nicht sehr ernst“ ein. Der Arzt Walentin Bjelokon war am 26. April 1986 als erster Mediziner vor Ort. Die taz druckt seinen Bericht als Vorabdruck aus dem Buch des eingangs zitierten Jurij Stscherbak: „Als ich mit Kibjonok sprach, fragte ich: Gibts Brandverletzte? Er sagte: Brandverletzte nicht. Aber die Situation ist nicht ganz klar. Irgendwas macht, daß es meinen Jungens schlecht wird...“ Tagesthema auf Seite 3 Kommentar auf Seite 4 Bericht auf Seite 5 Hintergrundbericht auf Seite 9