Sumgait - Fernsehbilder eines Pogroms

■ Für alle Sowjet–Bürger am Dienstag abend im TV: Augenzeugenberichte aus Sumgait über Tötungen, Vergewaltigungen, Plünderungen und Bücherverbrennungen / Sowjetisches Fernsehen brachte Objektivität und Fairness auf / Keine pauschalen Verunglimpfungen

Aus Moskau Alice Meyer

Das sowjetische Fernsehen, das von den Vorgängen in Aserbeidjan und Armenien auf dem blutigen Höhepunkt der Ereignisse Ende Februar/Anfang März erbärmlich wenig berichtet hatte (offizielle Begründung: Es habe damals „keine Zusammenarbeit“ zwischen den Massenmedien beider Republiken gegeben), holte am vergangenen Dienstag abend Versäumtes nach. Etwa 90 Minuten lang Interviews auf der Straße und in Amtsstuben, erschütternde Augenzeugenberichte von Flüchtlingen, ja sogar Hintergrundinformationen darüber, wie es zu der Forderung nach Anschluß der autonomen Region Nagornyi Karabach an Armenien sowie zu den Ausschreitungen im aserbeidjanischen Sumgait hatte kommen können. Sumgait - Bilder einer häßlichen Industriestadt mit Erdölraffinerie, vielen Baustellen und Slums. Der neue Vorsitzende des städtischen Exekutivkomitees, Eminbejli, berichtet über seine Amtsvorgänger: Die Spitzen der Stadtverwaltung hatten es stets vorgezogen, in feinen Vierteln des eine halbe Autostunde entfernten Baku zu wohnen. Der Kommunal– und Parteibürokratie von Sumgait sowie der städtischen Miliz wurde Versagen, wurde Untätigkeit angesichts des Wütens marodierender Banden vorgeworfen. Bilder von festgenommenen Schlägern und Plünderern. Die Physiognomien der Verhafteten lassen auf zwei Tätergruppen schließen: junge Aserbeidjanische Nationalisten aus „geordneten“ wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen sowie „Lumpenproletarier“ aus den Stadtrandsiedlungen, die mit ihren Wohnhöhlen aus Wellblech und Dachpappe an südamerikanische Elendsquartiere erinnern. Wer diese Bilder sieht, wundert sich nicht, daß die Auseinandersetzungen um eine von ökonomischer und kultureller Auszehrung betroffenen Gebirgsregion ausgerechnet hier, in einer jungen, verhältnismäßig weit entfernten Industriestadt mit vielen Zugewanderten und ungelösten sozialen Problemen, ihren blutigen Höhepunkt hatten. Was den Konflikt zwischen Aserbeidjanern und Armeniern anbetrifft, so beteuern in Kurzinterviews Angehörige beider Völker - einfache Leute ebenso wie Künstler, Wissenschaftler, Manager, Bürokraten und Politiker -, daß es vorher geschienen hätte, alle nationalen Fragen seien in der Region gelöst, und daß Ausschreitungen wie die in Sumgait vorher einfach unvorstellbar gewesen wären. Die Ratlosigkeit spiegelt sich auch in einer Empfehlung am Schluß des Fernsehbeitrags wider: Die Friedenskomitees auf Unions– und Republikebene sollten sich nicht immer nur um den Frieden in der Welt und jenseits der sowjetischen Grenzen, sondern auch um den Frieden im eigenen Land kümmern. Das sowjetische Fernsehen brachte die Objektivität und Fairness auf, die Anschluß–Bewegung in Nagornyj Karabach mit ihren Ablegern in Armenien (z.B. dem inzwischen verbotenen „Karabach“–Komitee) nicht pauschal als nationalistisch zu verunglimpfen. Zu Wort kamen Einwohner der Region, die auf die ökonomische Unterversorgung und sozial– kulturelle Benachteiligung ihrer Heimat hinwiesen, und ins Bild kamen Parolen auf Transparenten, die am 26. Februar 1988 in Stepanakert gezeigt wurden: „Für die Freundschaft der Völker“, „Es lebe die Gerechtigkeit“. Die traurige Bilanz der Gewalttaten zog ein Vertreter der Staatsanwaltschaft. Allein in Sumgait gab es Ende Februar/Anfang März 32 Tote, unter ihnen 26 Armenier, und über 200 Schwerverletzte. In Baku wurde eine spezielle Ermittlungs– und Strafverfolgungskommission gebildet. Insgesamt 80 Täter sind in Haft. „Keine endgültige Ziffer“, bemerkt der Staatsanwalt, denn es werde noch nach Flüchtigen und „Hintermännern“ gefahndet.