Die Aufrüstung läuft wieder

■ Die Einführung der neuen NATO–Nuklearwaffen läuft planmäßig / Neue Nachrüstungsdebatte soll verhindert werden: Mit Rücksicht auf Bonn verschoben die NATO–Minister politischen Beschluß über Stationierung

Aus Brüssel Andreas Zumach

Mit Rücksicht auf die anstehenden Landtagswahlen in der Bundesrepublik und das Bedürfnis der Regierung Kohl, eine neue Nachrüstungsdebatte zu verhindern, hat die NATO zum zweiten Mal einen politischen Beschluß über die Einführung neuer Atomwaffen vermieden. „Entscheidungen fallen hier nicht“, beteuerte gestern in Brüssel Bonns Verteidigungs– Staatssekretär Lothar Rühl nach der Tagung der Nuklearen Planungsgruppe (NPG) der Allianz. Tatsächlich laufen jedoch die schon 1983 beschlossenen Programme zur „Modernisierung“ des Nuklearwaffenarsenals unter 500 Kilometern Reichweite genauso planmäßig ab wie Maßnahmen zum Ersatz der wegverhandelten landgestützen Pershing II und Cruise Missiles. Beide Programme werden auf der jeweiligen nationalen Ebene der 16 Mitgliedsstaaten der Allianz bis zur Stationierungsreife vorangetrieben. Der NPG lag ein Bericht vor, der die neuen Waffen auflistet. Zur Nachfolge die Lance–Kurzstreckenraketen stehen danach zwar noch drei Systeme zur Auswahl: Die französische „Hades“, die „Patriot“–Rakete sowie die „Taktische Armee–Rakete“ (ATAMCS) mit einer Reichweite von 450 Kilometern samt nuklearem Sprengkopf, mit der das bereits in der Bundesrepublik stationierte Mehrfach–Raketenwerfer– System MARS bestückt werden soll. Tatsächlich sind jedoch bereits die Weichenstellungen für ATAMCS getroffen. Sie existiert bereits mit konventionellem Sprengstoff und wird als einzige unter der Bezeichnung „Lance– Nachfolge“ geführt. Seit Dienstag dieser Woche wird die Waffe von der Herstellerfirma in El Paso, Texas, getestet. Es wird erwartet, daß die USA und Großbritannien auf der entscheidenden Sitzung des Verteidungsplanungskomittees der NATO im Mai dieses Jahres die Aufnahme dieser Systeme in ihre nationale Streitkräfteplanung für die Jahre 1988–94 bekanntgeben. Eine solche Bekanntgabe auch ohne ausdrückliche Zustimmung der Bündnispartner ermöglicht die Bewilligung bislang gesperrter Haushaltsmittel. Fortsetzung Seite 2 Der US–Kongreß könnte so die Gelder für die nukleare Variante dieses Waffensystems bereitstellen. Staatssekretär Rühl, der den Noch–Verteidigungsminister Wörner vertrat, wollte gestern auf Fragen zu diesem Sachverhalt ausdrücklich nicht antworten. Nach Aussagen von Vertretern des Pentagon sollen für ATAMCS Sprengköpfe der abzuziehenden 572 Pershing II und Cruise Missiles benützt werden. Außerdem sollen ab 1992 in den bisherigen INF–Ländern Bundesrepublik, Großbritannien, Niederlande, Italien und Belgien 392 F–15–Kampfflugzeuge „Strike Eagle“ stationiert werden. Zu den bereits vorhandenen 160 Kampfbombern vom Typ F–111 mit 2.400 Kilometern Reichweite sollen 56 des Typs FB–111 A hinzukommen, die 4.700 Kilometer weit fliegen können. Die beiden neuen Typen erhalten das „Joint Tactical Missiles“– System, eine Cruise Missiles–Variante mit 1.500 Kilometern Reichweite - damit wären Schläge tief in sowjetisches Hinterland ohne Abschußgefahr für die Flugzeuge möglich. Dieses Waffensystem, das die UdSSR auf 600 Kilometer begrenzt sehen möchte, ist eines der drei Hauptprobleme bei den laufenden START–Verhandlungen. Erheblichen Druck übten die Verteidigungsminister der 15 NATO–Staaten auf ihren dänischen Kollegen Collet aus. Mit der Entscheidung des Folketing, des Parlaments in Kopenhagen, von Kapitänen verbündeter Kriegs schiffe vor dem Einlaufen in dänische Häfen Auskunft über mitgeführte Atomwaffen zu verlangen, sei „die gesamte Sicherheitslage Nordwest–Europas gefährdet“ - so jedenfalls sah es der Bonner Rühl. Er und seine Kollegen brachten die Hoffnung zum Ausdruck, daß diese Situation mit dem dänischen Parlamentswahlen am 10.Mai „bereinigt“ werde.