Der neue Mensch: billig, problemlos und funktional

Ein Manhattanprojekt der Biologie wünschen sich Amerikas Biotechnologen. Die Forschung, so ihre Forderung, soll - wie einst die Entwicklung der Atombombe - von der Regierung zentral geleitet und großzügig finanziert werden. Vor einer neuen Form der Eugenik warnt dagegen Biotechnologiegegner Jeremy Rifkin, der die Kirchen, kritische Wissenschaftler, Bürgerrechtsvertreter und Frauenorganisationen zur Protestkampagne gegen das Traumprojekt der Biotechnologen zusammentrommelt. Es geht um die Erfassung des gesamten menschlichen Erbguts, das sich immerhin aus nicht weniger als etwa drei Milliarden Bausteinen zusammensetzt. Beim heutigen Stand der Technik, dies errechneten die Forscher, kostet die Entschlüsselung pro Baustein einen Dollar. Unterm Strich also wird das Projekt drei Milliarden Dollar verschlingen. Zu teuer, protestierten zunächst renommierte Wissenschaftler wie der Nobelpreisträger David Baltimore; die Summe sei so hoch, daß andere Forschungsvorhaben zu kurz kommen würden. Doch spätestens seit im Februar die „National Academy of Sciences“ (NAS), ein Verband bekannter Wissenschaftler, der den amerikanischen Kongreß berät, grünes Licht für das „menschliche Genomprojekt“ (Human Genome Project) gab, sind die Kritiker verstummt. Zu verlockend sind die Gewinne, die eine Gesamterfassung des Erbguts in der Zukunft abwerfen soll. John Donalds von der Biotechnologiefirma „Collaborative Research“, die mit der Kartierung des menschlichen Erbguts bereits begonnen hat, prophezeit: „Wir haben hier einen zwei bis drei Milliarden Dollar schweren Markt, den es zu entwickeln gilt.“ Besorgt erkennen die Biotechnologen dieser Tage, daß an diesem Markt nicht nur die Amerikaner interessiert sind, sondern auch deren schärfste Konkurrenten auf der anderen Seite des Pazifik. „Dank einer rapiden Automatisierung und Robotisierung“, so ein Sprecher des US–Energieministeriums, „sind uns die Japaner bei der Entwicklung der Technik für die Entschlüsselung des Erbguts um fünf Jahre voraus.“ Der Traum vom Homunculus Bei den drei Milliarden chemischen Bausteinen, aus der die menschliche Erbsubstanz, die DNS (Desoxyribonukleinsäure), besteht, handelt es sich um vier Basenpaare, die - wie die Signale des Morsealphabets - in bestimmter Reihenfolge angeordnet sind. Eine Serie von etwa 1.500 Basenpaaren bildet ein Gen. Ungefähr 100.000 Gene liegen insgesamt auf den 23 Chromosomen, die in doppelter Ausführung in jeder Körperzelle auftreten. Ein Gen bildet den Code für die Bildung eines Körpereiweißes, das wiederum, meist in Zusammenarbeit mit anderen Eiweißen, für die Ausbildung eines Merkmals im menschlichen Körper verantwortlich ist. Auf diese Weise steuert die DNS die Entwicklung aller körperlichen Merkmale eines Menschen. In diesen Prozeß eingreifen zu können, ist der Traum der Mediziner und der Pharmaindustrie. Eine Gesamterfassung des menschlichen Erbguts würde ihnen ein willkommenes Werkzeug dafür liefern. Bereits heute profitiert die Pharmazie von ersten Schritten in der Entschlüsselung des mensch lichen Erbguts. So werden zum Beispiel menschliche Gene, die für die Kodierung eines bestimmten Eiweißes verantwortlich sind, in die DNS von Bakterien eingepflanzt. Wenn diese wiederum in geeignete Nährböden zur raschen Vermehrung gebracht werden, produzieren sie das gewünschte Eiweiß. Insulin und das menschliche Wachstumshormon werden auf diese Art und Weise bereits hergestellt. Dies jedoch sind nur Anfänge. In Zukunft sollen Genkarten den medikamentösen Eingriff direkt am Gen ermöglichen. Durch gezieltes Regulieren eines Gens wollen die Gendoktoren Krankheiten kurieren, bevor sich Symptome entwickeln. Weiterhin soll das Projekt Aufschluß über die etwa 3.000 beim Menschen auftretenden vererbbaren Krankheiten geben. Einige Krebsarten, Herzkrankheiten, manisch–depressive Psychosen und sogar Störungen im Sozialverhalten sollen laut neuesten Forschungsergebnissen zumindest zum Teil im Erbgut verankert sein. Wissen die Genetiker dank der Entschlüsselung des Erbguts erst, wo genau diese Veranlagungen sitzen, wollen sie medizinisch eingreifen. Andere jedoch warnen vor den ethischen Problemen, die das neue Wissen begleiten. Der amerikanische Schriftsteller und Psychiater Walker Percy greift in seinem jüngsten Roman den Trend in der Psychiatrie an, alle Krankheitssymptome auf genetische Störungen zurückzuführen. Percy in einem Gespräch: „Ein guter Teil unserer Ängste, unserer Entfremdung und unserer Depressionen im heutigen Leben sind nicht genetisch bedingt. Schuld daran sind Mängel unserer modernen Welt und die Art und Weise, wie wir leben.“ „Wieder einmal“, so auch Jeremy Rifkin, „eilt die Forschung vor aus, und die Entwicklung ethischer Normen kann nicht schritthalten.“ Er ist überzeugt, daß die Erfassung des Erbguts für eugenische Zwecke mißbraucht werden kann und deshalb zumindest streng reguliert werden muß. Selektive Geburten Eine öffentliche Überwachung des Forschungsvorhabens fordert auch Cynthia Pearson von der Frauengesundheitsorganisation „National Womens Health Network“. Neue Reproduktionstechnologien haben laut Pearson immer wieder zur Ausbeutung von Frauen geführt. Haben die Humangenetiker erst die Möglichkeit, genetische Untersuchungen am Fötus auszuweiten, so ihre Befürchtung, werden sie Schwangeren nahelegen, bei „Mängeln“ in der Genkonstellation abzutreiben. Sollen Babys also, die genetisch veranlagt sind, zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben depressiv oder herzkrank zu werden, künftig das Licht der Welt nicht mehr erblicken? Rifkin befürchtet weiterhin eine zunehmende Diskriminierung auf Grund gentechnischer Untersuchungen am Arbeitsplatz, bei den Versicherungen und in anderen sozialen Bereichen. Die Art und Weise, wie Aids–Tests mißbraucht werden, seien ein Indikator dafür. In Wissenschaftskreisen kommen bioethische Probleme allerdings, seit die „National Academy of Sciences“ sich uneingeschränkt für das Projekt ausgesprochen hat und die Bewilligung von 200 Millionen Dollar jährlich über 15 Jahre befürwortet, kaum mehr zur Sprache. Auch die Politiker packen die Gelegenheit beim Schopf und sind bemüht, Gelder für ihre Freunde in der Industrie zu sichern. Ein von den Senatoren Edward Kennedy (Massachussetts) und Lawton Chiles (Florida) eingebrachter Gesetzesvorschlag sieht die Gründung eines Komitees mit Mitgliedern der Regierung und der Privatindustrie vor, das Richtlinien für die Förderung des Projekts entwickeln soll. Kennedy–Mitarbeiter Steven Keith erläuterte in einem Gespräch: „Wir stehen unter starkem Druck von Privatfirmen, die (von dem Projekt) profitieren werden.“ Nicht alle sind bereit abzuwarten, bis Industrie, Regierung und Politiker die letzten Details des Projekts ausgearbeitet haben. Biotechnologie–Pionier Walter Gilbert hat kurzerhand entschlossen, keine Zeit mehr verstreichen zu lassen. „Während sich alle anderen echauffieren, kann ich ja zur Tat schreiten“, so der Nobelpreisträger von der Harvard Universität. Gilbert ist der Gründer von „Biogen“, einer der ersten Biotechnologiefirmen in den USA. Zur Zeit ist er damit beschäftigt, acht Millionen Dollar für seine neue Firma „Genome Corporation“ zu beschaffen, deren Aufgabe es sein soll, das menschliche Erbgut zu entschlüsseln. Schwierigkeiten bereitet ihm jedoch die Tatsache, daß seit dem Börsenverfall im Oktober die Bereitschaft, in Biotechnikfirmen zu investieren, merklich gesunken ist. Womöglich muß sich Gilbert einen Mäzen für das Projekt suchen. Der französische Biologe David Tepfer bemerkte dazu im Wissenschaftsmagazin Nature, daß sich lediglich jemand finden müsse, der sein eigenes Erbgut entschlüsselt haben will - und bereit ist, dafür drei Milliarden Dollar hinzulegen. „Leider“, so Tepfer, „sind J.P. Getty und H. Hughes tot, aber es muß doch jemanden geben, der es sich leisten kann, entschlüsselt zu werden.“