Istanbul: „Die Wut hatte sich aufgestaut“

■ Die taz sprach mit einer Dozentin der Universität von Istanbul über die Polizeiaktion und ihre Hintergründe

Aus Istanbul Ömer Erzeren

taz: Können Sie mir sagen was Sie auf dem Universitätsgelände beobachtet haben? Rund 1.000 Studenten hatten sich vor dem Rektoratszimmer versammelt und riefen Parolen, die die Kollaboration der Universitätsleitung mit der Polizei verurteilten: „Wissenschaft rein, Polizisten raus“, „Für eine demokratische, freie Universität“. Sie setzten sich auf die breiten Flure der Universität. Die Studentin, die am Vormittag von einem Zivilpolizisten angepöbelt wurde, erzählte über die Vorfälle: Freunde von ihr, die den Zivilpolizisten zur Rede stellten, wurden von der Polizei zur Wache gebracht und verprügelt. Ganz friedfertig saßen die Studenten auf dem Flur und verlangten die Freilassung ihrer Kommilitonen. Plötzlich war der Korridor von Polizisten eingekreist. Ohne Vorwarnung wurde wahllos auf die sitzenden Studenten eingeschla gen. Ein Teil wurde von der Polizei ins Rektoratszimmer gedrängt. Dann hörte ich das Krachen des Mobiliars und die Schreie von Menschen. Blutige Menschenkörper wurden von der Polizei weggetragen. Die Szenerie glich einem Schlachtfeld. Ganze Haarbüschel lagen auf den Fluren. Niemand von der Universitätsleitung ließ sich blicken. Das Lehrpersonal wurde von der Polizisten weggedrängt. Die Studenten beklagen sich über die Zusammenarbeit der Universitätsleitung mit der Polizei. Was wissen Sie darüber? In der Vergangenheit protestierten die Studenten schon mehrfach gegen die Präsenz von Zivilpolizisten auf Lehrveranstaltungen. In jeder Vorlesung, in jedem Seminar sitzen Zivilpolizisten. Ihre Identität ist zumeist bekannt. Außerdem sitzen seit jüngster Zeit Polizisten ganz offiziell als eingeschriebene Studenten dabei. Im Rahmen von Sonderprogrammen kommen diese Polizisten an die Universität. Mit Walkie–talkies sitzen sie dann in Seminaren und Prüfungen. Die Zahl der Polizisten an der Universität nimmt ständig zu. Die Universitätsverwaltung fordert die polizeiliche Präsenz. Die Universitätsleitung hätte mittels eins Dialogs die Auseinandersetzung verhindern können. Sie hatte aber daran kein Interesse. Es ist die größte Auseinandersetzung an der Universität seit dem Militärputsch 1980. Wie erklären Sie sich den Konflikt? Es ist nicht schwer, den Konflikt zu erklären. Das Bildungssystem ist seit dem Putsch höchst repressiv. Nicht Forschung und Lehre, sondern Prüfungen sind ausschließlicher Inhalt des Studiums geworden. Aufgrund der Denunziation von Polizisten leitet die Universitätsleitung Disziplinarverfahren ein. Aber es hatte sich eine solche Wut aufgestaut, daß selbst disziplinarische Drohungen die Aktionen der Studenten nicht verhindern konnten.