In Südost nix Neues

■ In S(üd)O(st) 36, dem nördlichen Teil von Berlin–Kreuzberg, hat sich ein Jahr nach der Randale–Nacht vom 1. Mai wenig verändert / Stapelweise Studien über die Probleme des Stadtteils und eine neue, schlagkräftige Einsatztruppe des Polizeisenators sind die Ergebnisse

Aus Berlin Brigitte Fehrle

Viele stellen sich in Berlin die Frage: Was hat sich seit dem letzten 1.Mai verändert, als aus einem friedlichen Stadtteilfest in Kreuzberg eine Randale–Nacht mit brennenden Barrikaden wurde? Die einen fragen in resigniertem Ton, die anderen mit ängstlichem Blick. Veränderung im Stadtteil hatten alle gefordert. Die politisch Verantwortlichen, die Linken, die Pfarrer. Alle Parteien hatten „Kreuzberg–Kommissionen“ eingerichtet, die Mengen von Papier produzierten. Doch die Lebensumstände der 35.000 Bürgerinnen und Bürger des Stadtteils sind wie sie waren. Die Vorschläge der Regierungsparteien CDU und FDP zu Obdachlosigkeit, Armut, Einsamkeit der alten Menschen, Drogen und Alkoholismus, Jugendarbeitslosigkeit, Wohnungsnot, sind alle so allgemein wie wahr und folgenlos. Nicht einmal eine Wärmestube für die Obdachlosen war dem Bezirk vom Sozialsenator Ulf Fink bewilligt worden. Vielleicht, weil allen schon klar war, daß hier nicht die Erklärung für die Krawallnacht zu suchen ist. Die „Kreuzberger Mischung“, mit der sich der Senat in Hochglanzbroschüren schmückt, erleben die Bewohner de facto als Segmentierung. Wie in unsichtbaren Häuten leben die verschiedenen Gruppen auf engstem Raum nebeneinander her - kaum daß sie sich gegenseitig wahrnehmen. Beim Szene–Bioladen am Heinrichplatz kann man die Türken, die täglich die Türklinke drücken, an einer Hand abzählen, über die Schwelle des türkischen Cafes in der Oranienstraße setzt kein Deutscher seinen Fuß. Die Hardliner– Prolis treffen sich im „Lausitzer Eck“, die Linken grade 20 Meter weiter in der „Pinte“, und nochmal zehn Meter weiter ist ein Punklokal, das beide vorgenannten Gruppen nicht gerade wohlwollend betrachten. Das Gefüge funktioniert, solange keiner die Bahnen des anderen stört. Auch innerhalb der Linken herrscht Sprachlosigkeit. In Kreuzberg, dem Stadtteil, in dem die Alternative Liste bei den letzten Wahlen 25 Prozent der Stimmen bekommen hat, reden die Gruppen nicht mehr miteinander. Teile der autonomen Szene sind dazu übergegangen, Auseinandersetzungen militant zu führen: Das Büro des alternativen Haus– Sanierungsträgers „Stattbau“, der einige ehemals besetzte und jetzt legalisierte Häuser verwaltet, wurde verwüstet. Begründung: „Stattbau“ sei Teil der Strategie des Senats zur „Aufstandsbekämpfung“ und gebe keine radikale Antwort auf die „strukturelle Gewalt“. Die Auseinandersetzungen darüber führen die einzelnen Gruppen ohne Dialog, auf Flugblättern. Die Alternative Liste ist paralysiert durch die ständig wiederkehrenden Debatten über Gewalt und Faustrecht im Kiez. Die Stadtplaner der Internationalen Bauaustellung und die Sozialarbeiter in den Projekten begannen zu hinterfragen, ob es Sinn macht, Arbeitsplätze für Jugendliche zu schaf fen, die knapp über dem Sozialhilfeniveau liegen. Letztlich bleibt Hilflosigkeit und Resignation. Es scheint, als seien mit den Baulücken in Kreuzberg auch die Utopien verschwunden und der Realisierung des Machbaren gewichen. Kleine Grün–Oasen in den Hinterhöfen der in jahrelanger Selbsthilfe modernisierten Häuser ersetzen den einstmals formulierten Besetzer–Wunsch nach der Freien Republik Kreuzberg. Für Punker, die keinen Wert auf neue Fenster und ein Badezimmer legen, ist in den Konzepten der behutsamen Stadterneuerung kein Platz. Vieles ist modellhaft in diesem Bezirk: Stadtteilausschuß und Bürgerbeteiligung bei der Sanierung und Stadtplanung. Doch zeigt sich eine seltsame Interesselosigkeit der Bewohner an diesen Mitbestimmungsgremien. Die Institutionen werden von denen wahrgenommen, die sie geschaffen haben und sie jetzt - zum Teil gegen gutes Geld - am Leben erhalten. Die Nachwachsenden und auch viele, die schon vor den Besetzern in Kreuzberg waren, empfinden sie als genauso feindliche Bürokratien wie die parlamentarischen Gremien. Umgesetzt wird die klare Strategie von Innensenator Kewenig. Er hat gelernt seit dem letzten 1.Mai. Die Einsatzbereitschaften und die im letzten Sommer eingerichtete 64 Mann starke Spezialeinheit EbLT (Einsatztruppe für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training) kennt in SO36 jeden Hof, jeden Hausflur, alle Dachaufgänge und Fluchtwege. Außer den Kontaktbereichsbeamten wird kein Polizist ohne Kampfanzug nach Kreuzberg geschickt. Und jetzt, kurz vor dem 1.Mai, entdecken Kenner in den unauffälligen Opels und VWs die Zivilbeamten, die den Kiez auskundschaften. Der Innensenator bestätigt die These von der „Gewaltbereitschaft“ in 36, indem er selbst in der letzten Woche mit nahezu militärischem Schutz durch die Straßen zog. Kreuzberg, nein, SO36, sein nördlicher Teil, denn darauf hat sich der Blick verengt, wird ruhig gehalten und zur Not, wie im letzten Sommer beim Besuch des amerikanischen Präsidenten, einfach für Stunden abgeriegelt. Und trotzdem oder auch grade deshalb ist es chic, in Kreuzberg zu wohnen. In den lichten Höhen ihrer ausgebauten Dachetagen kokettieren die Architekten, Lehrer und Ärzte mit der Armut der Hinterhöfe und sonnen sich vor der Kulisse der umgeworfenen Bauwagen. Kultursenator Hassemer tut das seine, um in der Welt Berlin zur Metropole zu machen. Auf Hochglanz stilisiert er die Kreuzberg–“Gegensätze“, die angeblich eine Stadt lebendig machen. Kreuzberg darf den Kurfürstendamm konterkarieren.