piwik no script img

Vom Bewußt Sein durchdrungen

■ Berlin grüßt den Rest des Kosmos: Einen Monat lang schwebt der Geist des New Age über der Mauerstadt

Wer bislang vom neuen Zeitalter, in dem destruktives und eindimensionales Denken abgeschafft werden soll, noch nichts gemerkt hat, dem wird es jetzt in Form einer bunt gemischten Veranstaltungsreihe massiv um die Ohren geschlagen: Im Mai werden in Berlin im Tempodrom und in der Kongreßhalle verschüttete Wege zu kosmischen Zusammenhängen freigeschaufelt, mit Sphärenklängen das grenzenlose Potential der Seele geöffnet und die Botschaften der Hopi–Indianer, der Sterne und fremder Lichtwesen verkünde. Wenn wir uns jetzt alle an den Händen fassen und gaaanz positiv denken, dann wird alles wieder gut, und wir kriegen das neue Bewußtsein 88. 89 dürfen wir dann wieder garstig sein.

Noch ist die Ära des Wassermanns nicht spürbar, aber dafür scheint in der Bundesrepublik das Neue– Kongreß–Zeitalter angebrochen. Gleich drei große Veranstaltungen sind in diesem Frühsommer dem Geist auf der Spur, der bekanntlich weht, wo und wie er will, und so tagt man in Hamburg unter dem Motto „Einswerden“, in Hannover bietet die CDU–Stiftung Niedersachsen internationale Prominenz zum Thema „Geist und Natur“, und in Berlin startete gestern die Veranstaltungsreihe „Bewußt Sein 88“. Vier Wochen lang soll es in Vorträgen, Diskussionen, Workshops, Ausstellungen und Konzerten um „Bewußtsein in seiner ganzen Bandbreite“ gehen, und diese Bandbreite offenbart sich im über 100 Seiten starken Programmheft als wahre Wundertüte: Von Kontemplation bis Kommerz, von Technologie bis Theologie, von Schamanismus und Zen bis zu schamlosem Unsinn ist alles vertreten im kosmisch–komischen Programm. Eingestimmte Esoteriker können sich von berühmten Meistern intensivieren lassen, eingefleischte Vegetarierer ausgefuchste Details ganzheitlicher Ernährung und Gesundheit kennenlernen, und unverbesserlichen Alt– Linken bestätigt ein kurzer Blick aufs Programm, daß es sich wieder mal um Hokuspokus und Opium fürs Volk handeln muß, denn schließlich gilt das Erste Gebot auf dem langen Marsch von Marx zu Murks immer noch: Das Sein bestimmt das Bewußtsein - und nicht umgekehrt. So einfach umgekehrt ist es aber nicht: Mit „Rat Tat Art“ will man nicht nur dem sinnlichem Überbau zur Seite stehen, auch an die Basis wird gedacht. So sollen etwa in der Abteilung „Krisenbewußtsein“ Greenpeace, Amnesty, Hungerprojekte und die Probleme Tibets zur Sprache kommen, im „Forum Futurum“ diskutieren Robert Jungk und Rudi Bahro mit Zukunftsforschern vom Marxismus– Leninismus–Institut Budapest und in der Abteilung „Zukunftstechnologie“ stellen Ingenieure und Wissenschaftler Energiekonverter, Wärmekraftmotoren und „Levitationsmaschinen“ vor. Weiterhin wird es Workshops über „Szenarios ökologischen Arbeitens“ und „Soziale und elektronische Netzwerke“ geben sowie ein Forum über „Visionen für das dritte Jahrtausend“. Daß die ketzerischen Technologen ausgerechnet evangelische Theologen auf den Plan gerufen haben - der Sektenbeauftragte hat protestiert -, wundert nicht: Während die katholische Kirche auf die Konkurrenz mit der Strategie der Umarmung reagiert - kürzlich fanden in einem Berliner Dominikaner–Kloster New–Age– Tage statt -, gehen die diesseitigen Protestanten mit dem wie auch immer heiligen Geist nach wie vor um wie Klempner mit der Rohrleitung. Der Kirchenmann, der angesichts der geballten Workshop– Ladung die Instant–Ekstase geißelt, der Materialist, dem es vor dem Hang zum Übersinnlichen graust, der Polit–Kopf, der nur alte Ideologie–Schläuche gefüllt mit neuem Zeitalter entdeckt - sie alle haben ein Stück recht, aber keinesfalls in Bausch und Bogen. Dafür ist die Wundertüte „Bewußt Sein 88“ viel zu prall gefüllt, mit Neuem, Unbekanntem und Unerwartetem. Schließlich ist der Kopf rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann... Mathias Bröckers

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen