Kreuzberger Abklatsch eines Kiez–Aufstands

■ Unter dem Erwartungsdruck, am Jahrestag der Kiez–Randale von 87 „action“ liefern zu müssen, feierte SO36 eine lange Mai–Nacht

Aus Berlin Brigitte Fehrle

Es war, als ob man einen schlechten Film zum zweiten Mal sieht: Berlin–Kreuzberg am 1.Mai 1988 das war ein verkrampfter, flauer Abklatsch der legendären Vorjahresrandale, die im letzten Jahr Politiker, Psychologen, Soziologen und Polizeistrategen in hektische Ursachenforschung getrieben hatte. Doch was im letzten Jahr mit für alle unerwarteter Heftigkeit in diesem Stadtteil explodiert war, traf in diesem Jahr genauso ein wie erwartet. Am Sonntag nachmittag hatte sich die Polizei demonstrativ zurückgehalten, als 6.000 Leute bei einer „Revolutionären 1.Mai– Demo“ (so der O–Ton der Kreuzberger Flugblätter) durch SO36 zogen. Das traditionelle Mai–Fest auf dem Kreuzberger Lausitzer Platz war überfüllt von Leuten in Feststimmung und Neugierigen. Der Alkohol floß reichlich. Gegen acht Uhr abend lichtete sich der Platz, die Stände waren abgebaut. Übrig blieben die, die auf etwas warteten. Als um 9 Uhr die Feuerwehr in Polizeibegleitung kam, um ein kleines Feuer zu löschen, flogen die ersten Flaschen, die Polizei schwärmte aus, haute kräftig drauf, nahm mehrere Leute fest und zog sich wieder zurück. Eine Stunde später brannte in den Straßen rund um den Lausitzer Platz alles, was brennen konnte - doch das war nicht viel. Die Plastikbecher des Festes schmolzen und produzierten stinkenden schwarzen Rauch, Mülltüten, Pappkartons. Dafür, daß von Barrikaden nicht die Rede sein konnte, hatte die Polizei schon Tage vorher gesorgt. Mit grünen Lkw hatte sie Berge von Baumaterial und wurfgerechten Pflastersteinen abtransportiert. Die Polizei, mit schwerem Gerät und 1.500 Beamten präsent, fuhr mit Barrikadenräumfahrzeugen gegen brennende Müllhaufen an, Wasserwerfer löschten die stinkenden Schwelbrände. Vereinzelt flogen Steine und Flaschen gegen die in rasender Geschwindigkeit durch den Kiez kurvenden Einsatzwagen. Die seit Monaten geplante Einsatztaktik der Polizei traf auf keinerlei Gegenstrategie. Und deshalb traf es die, die in der Nacht agierten, umso härter. 134 Personen wurden festgenommen, zum großen Teil von Zivilbeamten. Die Polizei meldete 54 verletzte Beamten der Sondereinheit für besondere Einsätze (EBLT). Polizisten mit Schlagstöcken stürmten zwei Kneipen ohne ersichtlichen Grund. Einsatzwagen verfolgten mit Suchscheinwerfern einzelne Flüchtende bis in die Büsche, Schlagstöcke prallten wahllos auf Leute. „Dich krieg ich, Dicker, dein Gesicht hab ich mir gemerkt“, tönte es aus dem Außenlautsprecher eines Polizeiwagens. Die moderaten Töne des Nachmittags, als die Polizei mit Zurückhaltung und Deeskalationsflugblättern dazu beitragen wollte, daß es angesichts der großen Demonstration ruhig blieb, gingen mit Einbruch der Dunkelheit im schrillen Sirenengeheul unter. Bis um drei Uhr morgens blieben die Straßen in immer wechselnden Varianten von der Polizei blockiert. Ab und zu zündeten einzelne einen Haufen Unrat an. Die Versuche, tatsächlich Barrikaden zu errichten, wurden meist lustlos wieder abgebrochen. Viel Alkohol war im Spiel, und die da noch unterwegs waren in der warmen Nacht, waren Kreuzberger Prolis, die voyeurhaft auf eine Randale warteten, die nicht kam. „Is ja nüscht los heute“, meinte enttäuscht ein Ehepaar, und auf die Frage, warum denn etwas los sein müsse: „Ist doch 1.Mai. Ist doch Tradition.“ Genau diesen Automatismus und diesen Erwartungsdruck, daß sich die „Szene“ an diesem legendären Datum etwas schuldig sei, hatten in den letzten zwei Wochen in Kreuzberg viele versucht zu verhindern. Kein „Revival“, hieß die Losung. Am Fest auf dem Lausitzer Platz hatten sich alle Gruppen aus dem Stadtteil - fast demonstrativ - beteiligt. Man wollte klar stellen, daß man sich die Straße zum Feiern nicht nehmen läßt, auch grade, weil die CDU Kreuzberg sich offen von dem Fest distanziert hatte. Die Veranstalter, die VOBO Initiative, unterstützt von AL und SEW, hatten betont, daß sie ein friedliches Fest feiern wollen. Doch wie soll man verhindern, daß Westdeutsche anreisen, daß Leute aus anderen Stadtteilen kommen in der Hoffnung, mal wieder eine Nacht lang ihren Frust ablassen zu können. Unter denen, die da in kleinen Grüppchen durch die Straßen zogen und sich an Straßenschildern und Bauzäunen versuchten, waren kaum bekannte Kreuzberger Gesichter. All diejenigen, die am Nachmittag demonstriert hatten, Autonome, ehemalige Besetzer, Leute, für die der 1.Mai noch ein politisches Datum ist, aber die, die den DGB nicht unterstützen wollten, dieses ganze bunte Spektrum von Leuten war in dieser Nacht kaum auf den Straßen. Nicht einmal als Zuschauer. Übrig blieben ältere Schaulustige, junge Türken, die ärmsten der Armen und Jugendliche, die scheinbar kaum noch Erwartungen ans Leben stellen.