„Erfüllbare Forderungen stellen“

■ Der Berater Walesas, Aleksander Hall, gehörte schon 1980 zum Gründungskomitee

taz: Viele Oppositionelle in Polen meinen, für die Durchführung der Wirtschaftsreform sei heute vor allem eines nötig: Ruhe. Aleksander Hall:Die augenblicklichen Forderungen nach Lohnerhöhung drücken vor allem Protest aus. Die Regierung geht mit der Gesellschaft um wie in der Zeit vor der Entstehung von Solidarnosc. Ist denn die Situation heute mit 1980 vergleichbar? Ich sehe vor allem Unterschiede. Mit dem Bewußtsein sind wir heute viel weiter, wir haben eine günstigere innenpolitische Situation und auch einen anderen internationalen Hintergrund in der UdSSR. War es nicht ein Fehler der Regierung, die Reform mit Preiserhöhungen zu beginnen? Der Fehler war, die Reform zu beginnen, ohne in der Gesellschaft zuvor die Akzeptanz dafür erreicht zu haben - ohne mit dem politisch aktiven Teil der Bevölkerung einig geworden zu sein, ohne Solidarnosc zu berücksichtigen. Die Gesellschaft ist durchaus bereit, eine Senkung ihres Lebensstandards hinzunehmen, wenn sie dafür bessere Perspektiven erhält und Möglichkeiten, mitzuentscheiden. Wie soll es in Polen weitergehen? Wir müssen Forderungen aufstellen, die erfüllbar sind. Unrealistisch wäre zum Beispiel, freie Wahlen zu fordern oder überhaupt die Machtfrage gegenüber der Zentralgewalt zu stellen. Realistisch ist die Forderung nach Vereinigungsfreiheit. Und die Legalisierung von Solidarnosc - ist die realistisch? Ganz sicher ist es realistisch, Pluralismus zu fordern. Auch im Gewerkschaftsbereich gibt es Spielraum für Kompromisse: zum Beispiel bei der Frage, ob es eine zentralisierte Gewerkschaft wie Solidarnosc geben wird oder eine andere Struktur. Die Werftarbeiter verlangen ja auch nur die Legalisierung von Solidarnosc für ihre eigene Werft. Was sagen Sie zum Verhalten der Regierung? Gewalt könnte die Bewegung zwar momentan aufhalten, aber es wäre das Eingeständnis, daß Jaruzelskis Normalisierung ein Fiasko war. Können Sie sich vorstellen, im Rahmen des Streiks zu fordern, daß die Wahlordnung für die Wahl der Gemeinderäte im Sommer geändert wird? Die derzeitige Wahlordnung ist unsinnig: Man redet über mehr Pluralismus und verabschiedet dann so ein Gesetz. Bei der Forderung nach freien Wahlen zu den kommunalen Selbstverwaltungsorganen sehe ich tatsächlich Raum für einen Kompromiß, da könnte die Regierung nachgeben. Jacek Kuron hat vor kurzem einen Streit in der Opposition ausgelöst darüber, ob ein Ausbruch des Protestes bevorstehe, und ob er dann nicht zu früh komme. Jetzt ist er da - zu früh Ihrer Ansicht nach? Natürlich kann man sagen, später wären wir besser organisiert gewesen. Aber ich habe eigentlich mehr befürchtet, es könnte zu einer unkontrollierten Entladung der angestauten Frustration kommen. Jetzt ist die Bewegung da, und wir müssen versuchen, ihr eine sinnvolle Rolle zu geben. Was wir jetzt brauchen, ist eine tiefgreifende Reform des Staates. Interview: Klaus Bachmann