: Jaruzelski verfällt in die alte Taktik
■ Spezialeinheiten stürmten Nowa Huta / Die Leninwerft in Danzig war gestern von ZOMOS umstellt
Die Nachricht aus Nowa Huta hat in Gdansk Erbitterung ausgelöst. Daß gestern in den frühen Morgenstunden die Arbeiter des Stahlwerks buchstäblich in die Knie gezwungen wurden, erscheint hier noch unfassbar. Auf der Werft in Gdansk kam es bisher noch nicht zum Sturm der Miliz, aber die Direktion hat die Werft auf unbegrenzte Zeit stillgelegt. Über Rundfunk wurden die Arbeiter der Morgenschicht aufgefordert, zu Hause zu bleiben. (vgl. auch Seite 1)
Noch am Mittwoch schien sich in Gdansk eine Entspannung der Situation anzudeuten, als die Miliz aus dem Umkreis der Werft abgezogen wurde. Es schien so, als ob die Regierung auf Gewalt verzichten und lediglich mit Drohgebärden die Arbeiter einschüchtern wollte. Es wurde zwar um 10 Uhr die Räumung der Werft angedroht, der Zeitpunkt verstrich jedoch, ohne daß die Zomos Anstalten machten, auf die Arbeiter loszugehen. Die Stimmung besserte sich noch, als am Nachmittag die Solidarnosc–Berater Hall (siehe das Interview auf dieser Seite), Wielkowiejski und Mazowicki erschienen, von denen die beiden letzteren eine Vollmacht des polnischen Episkopats in der Tasche trugen. Viele Arbeiter gingen nun davon aus, daß es zu einem Treffen zwischen den Bischöfen und den Vertretern der Kirche gekommen sei. Und als dann am Nachmittag Walesa zusammen mit dem in vollem Ornat gekleideten Pater Jankowski auf der Werft eintraf, wuchsen die Hoffnungen auf einen Kompromiß. Walesa erklärte aber, er müsse auf eine Beerdigung und habe wenig Zeit. Nach kurzem Geplauder mit den Beratern und der Presse verschwand er wieder. In Anbetracht dieser Szene kann man sich nnicht mehr des Eindrucks erwehren, daß in ihm wohl endgültig der Politiker, und nicht mehr der Arbeiterführer, zum Durchbruch kommt. Obwohl immer noch mit Beifallsstürmen empfangen, hat er heute nicht mehr das Charisma von 1980, sondern verbreitet die Atmosphäre eines Nobelpreisträgers, der mal auf einen Sprung in der Werft vorbeischaut. Und in der Belegschaft werden die Stimmen lauter, die ihn wegen seiner gemäßigten Position zu kritisieren wagen. Streikleiter Alojsy Sablowski scheint größeren Einfluß auszuüben. Der gewählte Vorsitzende des Streikkomitees, der schon 1980 Walesas Stellvertreter war, hat ebenfalls eine umfangreiche oppositionelle Karriere hinter sich. Er war einer derjenigen, die schon 1976 für die streikenden und verhafteten Arbeiter von Radom und Ursus die Solidarität organisierten und später die Solidarnosc gründen halfen. Nach dem Putsch Jaruzelskis wurde er als Organisator des Streiks wegen Verstoßes gegen das Kriegsrecht zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er jedoch nur ein halbes Jahr absaß. Er wurde seltsamerweise damals nicht - wie viele andere Solidarnoscleute - aus der Danziger Werft entlassen und ist somit einer derer, der die Zeit der Säuberungen überstanden hat. Damals wurden vierhundert Geheimdienstler in die Belegschaft eingeschleust und die Arbeiter mit ihren Familien durch Angehörige der Parteizelle und durch Betriebsschutzangehörige unter Druck gesetzt. Und dennoch wirkt heute immer noch der Geist der Solidarnosc von damals nach. Im Gegensatz zu Nowa Huta, wo das Streikkomitee bisher zurückhaltende Forderungen aufstellte, gehen die Arbeiter der Leninwerft wieder mal aufs Ganze. Die Forderung nach Wiederzulassung der Solidarnosc fürs ganze Land wurde zwar relativiert und beschränkt auf den Betrieb bezogen, doch weiterhin hält man an der Wiederzulassung prinzipiell fest. Weiterhin werden 15.000 bis 20.000 Zloty Teuerungszuschlag, die Freilassung der politischen Gefangenen gefordert und die Wiedereinstellung aller, die den Betrieb aus politischen Gründen verlassen mußten. In einem Appell an die anderen Betriebe wird zu Solidaritätsstreiks aufgerufen. Am Mittwoch haben sich dann die 6.000 Arbeiter der Solidaritätswerft dem Streik angeschlossen. Der Streik wurde dort ausgerufen, nachdem sich eine Delegation der offiziellen Gewerkschaften an die Direktion ge wandt und Lohnerhöhungen gefordert hatte. Die offiziellen Gewerkschaften sind in den Sog der Kampfbereitschaft geraten. „Wir haben überhaupt keine Forderungen aufgestellt, das kam von den offiziellen Gewerkschaften“, heißt es aus dem Zweigwerk. Als dann die Direktion ablehnte, war die Entscheidung zugunsten der Streiks gefallen. Die Tatsache, daß in diesem Fall die Initiative von den offiziellen Gewerkschaften und nicht von der Solidarnosc–Zelle ausging, ist umso bemerkenswerter, als in Nowa Huta die Offiziellen Gewerkschaften OPZZ erfolglos versuchten, die Streikfront zu zerbrechen. In Gdansk kann eine solche Taktik gar keinen Erfolg haben, weil die Belegschaft wesentlich radikaler und erfahrener ist. So wollten sich die Offiziellen, wenigstens zeitweise, hier an die Spitze der Bewegung setzen. Vor Streikbeginn, als die Nachrichten aus Nowa Huta kamen, hatte Walesa zu Solidaritätsbekundungen aufgerufen, vom Streiken war nicht die Rede. Es ist aber kein Zufall, daß die Arbeiter der Leninwerft den Aufruf eigenwillig befolgten: mit dem härtesten Mittel, dem Besetzungsstreik. Klaus Bachmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen