Ein neues Ultimatum für die Lenin–Werft

■ Die gewaltsame Räumung der besetzten Gdansker Werft wird immer wahrscheinichere / Der Streik in Gdansk wird von der Regierung zur Begründung eines Gesetzes genutzt, das ein allgemeines Streikverbot verhängen soll / Widerstand auch bei offiziellen Gewerkschaften

Aus Gdansk K. Bachmann

Die Betriebsleitung der LeninWerft hat ein neues Ultimatum gestellt. Am Montag um 18.00 Uhr sollten die noch streikenden Arbeiter das Werksgelände verlassen haben. Damit war gestern nachmittag eine Räumung der Werft wahrscheinlicher geworden. Die dritte Verhandlungsrunde zwischen der Direktion und der Streikleitung war an der Frage der Wiederzulassung eines Betriebskomitees von Solidarnosc gescheitert. Kurz zuvor hatte Innenminister Kiszczak die mündliche Zusage gegeben, alle Verhafteten in Nowa Huta und Gdansk freizulassen und auf ihre alten Posten wiedereinzustellen, wenn die Streikenden endlich aufgäben. Die vor allem jugendlichen Werksbesetzer aber blieben hart. Der Vorsitzende des Streikkomitees, Szablewski, schlug gestern nachmittag der Werksleitung zwar vor, ein gemeinsames Komitee aus Vertretern der Streikenden und der Betriebsleitung zu gründen, das alle strittigen Fragen diskutieren und die Durchführung der Beschlüsse überwachen sollte. Szablewski ließ auch durchblicken, daß das Streikkomitee sich mit dem Kompromiß des Innenministers einverstanden erklären könnte. Diese vermittelnde Position blieb gestern nachmittag bei den Streikenden aber umstritten. Die neue Generation der militanten Arbeiter der Leninwerft blieb gestern nachmittag noch unversöhnlich. Die Anzeichen mehren sich, daß bestimmten Kreisen der polnischen Partei– und Staatsführung der Streik in der Gdansker Lenin– Werft durchaus gelegen kommt. Seit Beginn des Streiks wird in den Massenmedien offen ein Ermächtigungsgesetz für die Regierung zur schnelleren Durchführung der Wirtschaftsreform propagiert. Es soll schon am Mittwoch verabschiedet werden. Dieses Ermächtigungsgesetz soll unter anderem das völlige Verbot von Streiks und Protestaktionen auch dann vorsehen, wenn sie von den offiziellen Gewerkschaften organisiert wurden. Das Gesetz beinhaltet also eine Stärkung der Zentralmacht, die direkt in die Betriebe eingreifen kann, und bedeutet insofern eine Abkehr von der ursprünglich im Rahmen der zweiten Etappe der Wirtschaftsreform vorgesehenen Dezentralisierung. Parteichef Jaruzelski hatte vor einem Monat auf dem Kongreß der Vereinigten Bauernpartei nur vorgeschlagen, die Direktoren, die sich Lohnforderungen gegenüber zu nachgiebig verhielten, abzusetzen. Nun aber soll plötzlich eine wesentlich schärfere Version verwirklicht werden, die ganz offen auch gegen die offiziellen Gewerkschaften gerichtet ist. Deren Zentrale hat prompt protestiert. Das Gesetz beraube die Gewerkschaften jeglicher Handlungsmöglichkeit, hieß es in einer Stellungnahme, in der die Durchführung der Wirtschaftsreform heftig kritisiert wird. Die Reform sei, so heißt es, bürokratisch, inkonsequent und widersprüchlich und beschränke sich vor allem auf Preiserhöhungen, ohne das Lebensniveau der Arbeiter zu sichern. Klar ist, daß die Regierung das Ermächtigungsgesetz unter normalen Umständen kaum reibungslos über die Bühne gebracht hätte. Bereits kurz nach Beginn des Gdansker Streiks wurden die Wojewodschaftssekretäre der Partei zu einer Sitzung nach Warschau berufen, die dem Gesetzentwurf zustimmten. In Gdansk kursieren Gerüchte, wonach es am Mittwoch sogar zu einer Regierungsumbildung kommen soll. Die Regierung werde den Streik in der Leninwerft bis dahin noch am Kochen halten, weil er als Vorwand für eine Verschärfung des innenpolitischen Klimas herhalten kann. In diesem Zusammenhang kommt nun auch der Name des als Reformer geltenden früheren Außenministers Mieczyslaw Rakowski ins Spiel, der erst vor kurzem in das Politbüro aufgenommen wurde. Während Jaruzelski seit seiner Erste–Mai–Ansprache in den Medien kaum aufgetaucht ist, wurde am Wochenende eine Ansprache Rakowskis in der Tribuna Ludu ganzseitig veröffentlicht, in der er den Versuch unternimmt, auf die Seite der Befürworter eines härteren Kurses umzuschwenken. Sollte der Streik in der Leninwerft als Vorwand für eine Verhärtung des innenpolitischen Kurses und größere personelle Veränderungen im Regierungsapparat herhalten müssen, wären damit sowohl die Verhaftungswelle un ter Oppositionellen als auch die widersprüchliche Taktik von Direktion und Behörden mit den Streikenden in Gdansk erklärt. Fast eine ganze Woche lang lehnte die Direktion Verhandlungen mit den Streikenden ab. Seit dem Wochenende hat sie sich aber zu Gesprächen bereit erklärt, ohne daß ein Ergebnis in Sicht wäre. Aus Warschau hat Innenminister General Kiszczak den Unterhändlern des Episkopats - Tadeusz Mazowicki und dem kürzlich eingetroffenen Rechtsanwalt Wladislaw Sila–Nowicki - Sicherheit für die Streikenden und die Erfüllung ihrer Lohnforderungen zugesichert, falls sie auf die politischen Forderungen verzichteten. Am Sonntag erklärte der Wojewodschaftsprokurator von Gdansk, wer bis 18 Uhr die Werft verlasse, brauche mit keinerlei rechtlichen Konsequenzen zu rechnen, und der Direktor der Werft ließ sich herab, denen, die den Streik abbrechen, ihre weitere Anstellung zu garantieren. Kuriere, die die Streikenden auf Schleichwegen durch den Kordon der Miliz hindurch mit Nahrungsmitteln und Kleidern versorgen, berichten indessen, die Stimmung in der Werft sinke auf den Nullpunkt. Die Arbeiter seien gedrückter Stimmung und pessimistisch, die meisten rechneten mit einer Intervention der bereits in Gdansk eingetroffenen Anti–Terror–Einheiten. Auch die Zahl derer, die sich an der Besetzung der Werft noch beteiligen, gehe stetig zurück. Nach Informationen aus der Werft soll der Vorsitzende des Streikkomitees Szablewski beabsichtigen, die Beendigung des Streiks vorzuschlagen.