: Hoch ist der Anspruch, platt die Wirklichkeit
■ „Radio X“, ein experimentelles Kunst–Radio unter öffentlich–rechtlichem Dach, bewegte zehn Tage lang die Frankfurter Gemüter / Das „öffentliche Labor“ sorgte für ein Novum in der Geschichte der Radiozensur: Abbruch mitten in der Sendung
Aus Frankfurt Heide Platen
102,5 Megahertz in Hessen, aus dem Radio dröhnen kreischende Stimmen, die in endloser Folge und mit wechselnden Rollen endlose Reime rezitieren. Wortmüll und Musikfetzen reizen die Sinne und den Verstand bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus. Das ist Kunst, sagen die VeranstalterInnen. Das „Kunst–Radio“, konzipiert von der Initiative „Radio X“, ist in Frankfurt auf Sendung gegangen. Unter der Schirmherrschaft des Hessischen Rundfunks und mit - gutbezahlter - Duldung der Post ist der erste Privatsender Hessens kein Verleger–Radio, sondern ein Gemisch aus Kunst und Kommerz. KünstlerInnen, HochschulabsolventInnen dieser Fachrichtung und private Sponsoren investierten Energie und Geld in die vierstündigen Sendungen, die vom 1. bis zum 10. Mai täglich ab 19 Uhr stattfanden. Gesendet wird aus einem orangefarbigen Bauwagen, der in der Frankfurter Innenstadt direkt am Mainufer steht. Technik ist die Sache der Macher nicht, der Sender ist deshalb auch ständig übersteuert. Ahnungslose und strapazierfähige Hörer mögen auch das für Kunst halten. Das Kunstradio, von den InitiatorInnen Walter E. Baumann und Petra Klaus als gleichzeitig „offen“ und avantgardistisch angekündigt, hat auch schon seine Feinde. Die einen sitzen in den Gasthäusern und schimpfen, die anderen gehen zur direkten Aktion über. StudentInnen versammeln sich am sechsten Sendetag mit Bierkästen vor dem Bauwagen. Am Morgen dieses Tages sind in der Stadt Zettel verteilt worden: „Kunstradio ist Scheiße!“ Die Stimmung ist geladen. Eine Künstlerin hat ihre Leibgarde mitgebracht. Drei jugendliche Skinheads stützen sich auf ihre Knüppel. Kurz nach 20 Uhr dürfen die KritikerInnen ihre Kassette auflegen. Aus dem Äther ertönt die Stimme des Bäckermeisters Grunwald. Das ist in der Tat keine Kunst, sondern eine Provokation - für den Hessischen Rundfunk. Aus gerechnet diese Rede sorgte in den letzten drei Jahren für anhaltende Aufregung bei CDU– und FDP– Mitgliedern im Rundfunkrat. Sie war Teil der langen und erfolgreichen Serie „Liebes Volk“, in der BürgerInnen frei von der Leber weg eine Rede an dasselbe halten durften. Die Rede des Bäckermeisters wurde von einer Jury ausgezeichnet, in der neben Rita Süssmuth und dem Rhetorikprofessor Walter Jens auch Dieter Hildebrandt saß. Auch das Publikum wurde befragt. Die HörerInnen kürten den Bäckermeister auf Platz eins. In einer Abschlußsendung sollten die ersten drei Beiträge dann noch einmal gesendet werden. Dem schob der Rundfunkrat im Oktober 1986 einen Riegel vor. Die Rede „Die Untertanen schweigen“, die den Staat, die Wiederaufrüstung und das bundesdeutsche Duckmäusertum geißelt, ging nicht über den Äther, sondern verschwand im Giftschrank des Hessischen Rundfunks. Daß die untergeschobene Kassette auch im „Kunst–Radio“ nicht in voller Länge zu hören war, lag an Macher Walter E. Baumann. Er stoppte das ihm ins Nest gelegte Ei nach zehn Minuten, noch ehe der mithörende Redakteur im Funkhaus am Dornbusch sich meldete. Der habe sich, teilte der Hessische Rundfunk mit, nur erkundigen wollen, was da liefe. Es sei ihm „so bekannt“ vorgekommen. Baumann gelang damit ein Novum in der bundesdeutschen Rundfunkgeschichte, die zwar Vorzensur und die Schere im Kopf der MacherInnen ebenso kennt wie Nachzensur - daß aber ein Beitrag mitten in der Sendung unterbrochen wurde, war bisher sowohl technisch als auch sonst unmöglich. Die Sendung der Kassette, so argumentierte Baumann anschließend, sei nicht abgesprochen gewesen. Die Erregung schlug verbale Wellen. Baumann beharrte auf der Trennung von Kunst und Politik, die StudentInnen hielten dagegen. In den folgenden Tagen wird in der „Szene“ heftig diskutiert. Das radikale Amsterdamer Radio „Rabotnik“ mischt sich ein. „Rabotnik“ ist avantgardistisch, gibt aber nicht vor, „offen“ für alle zu sein. Klaus und Baumann in ihrem Prospekt: „Das Kunstradio ist ein öffentliches Labor ...“. Vom Hessischen Rundfunk ist zu hören, daß das Verbot des Rundfunkrats natürlich auch für die VeranstalterInnen des Kunst– Radios gelte. Pressesprecher Raue räumte allerdings ein, ein solcher Eingriff wie der von Baumann sei ihm noch nie zu Ohren gekommen. Bisher seien hausinterne Kontroversen immer nach der Sendung ausgetragen worden.
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