Sieger Mitterrand

■ Der unangefochtene Wahlsieg Franois Mitterrands wird die französische Politik radikal verändern

40.000 Menschen feierten Mitterrands Wahlsieg an der Bastille, darunter viele Ausländer, die selbst gar nicht wählen durften. „Was die Leute wollen, ist jemand, der tolerant und kompetent zum Regieren ist. Mitterrand ist superb“, sagt Christian, ein feiernder Fan vor der Bastille. Chirac kann einpacken: Nach dem radikalen Sieg Mitterrands steht eine Neuordnung der politischen Kräfte bevor - nur ohne Chirac. Konservative Politiker kündigen die Bildung einer unabhängigen Zentrumsbewegung an.

Seit Sonntagabend stehen französische Politiker Kopf. Nach dem erwarteten Wahlsieg Franois Mitterrands bei den fünften französischen Präsidentschaftswahlen bereitet sich jetzt Frankreich auf jenen dritten Wahlgang vor, für den der Präsident eine neue Regierung ernennen wird, die alsbald vom Parlament abgesegnet werden muß. Die französische Nationalversammlung aber ist mit einer rechten Mehrheit besetzt. Wie, so lautet die Frage, werden sich dann die rechts–liberalen Abgeordneten der bisherigen Regierungspartei UDF verhalten? Treten einige von ihnen sofort in eine sozialistische Regierung über? Seit Sonntagabend, so steht fest, ist das Bündnis zwischen UDF und gaullistischer RPR, das zwei Jahre lang die Regierung stellte, aufgekündigt. Mit genau 54,05 Prozent der Stimmen gegenüber 45,95 Prozent für seinen Konkurrenten Jacques Chirac wurde Franois Mitterrand am Sonntag von den französischen Wählern in seinem Amt bestätigt. Dieser persönliche Wahlerfolg des Präsidenten, der in der Geschichte der französischen Linken keinen Vergleich kennt, wird auf absehbare Zeit zu einer völligen Neuordnung der politischen Kräfteverhältnisse in Frankreich führen. Diese Neuordnung wird in gewissem Maße der Zusammensetzung der Wähler entsprechen, die am Sonntag für den Präsidenten stimmten. Beim ersten Wahlgang hatten die linken Kandidaten insgesamt nur 45,34 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt. Der Wahlerfolg Mitterrands im zweiten Durchgang gründet sich auf 22 Prozent der Le Pen–Wähler vom ersten Wahlgang, 13 Prozent der Wähler des UDF–Kandidaten Raymond Barre und 78 Prozent der Grünen– Wähler. Der neue Präsident wird diesen Stimmen Rechnung tragen müssen. Sein Sieg ist kein Blankoscheck. Doch kommt Mitterrand die sich nun ihm bietende Möglichkeit der Allianz mit einem Teil des bürgerlichen Lagers gerade recht. Das Mitte–Links–Bündnis stellt in der Tat die Voraussetzung für eine Fortsetzung der rigorosen Spar– und Wirtschaftspolitik dar, an deren Notwendigkeit Mitterrand nie zweifelte. Eine ausschließlich mit Sozialisten besetzte Regierung würde die Glaubwürdigkeit der sozialistischen Partei aufs Spiel setzen, wenn sie in mehr oder weniger offensichtlicher Kontinuität der Chirac–Regierung handeln würde. Der Hilferuf Mitterrands ans Zentrum, der bereits im Wahlkampf unüberhörbar war, traf unmittelbar nach dem Wahlentscheid auf ein positives Echo. Die Spitzenpolitiker der UDF, Raymond Barre, Valery Giscard dEstaing, Jean Lecanuet, Pierre Mehaignerie und Simone Veil, sprachen sich noch am Wahlabend für die Konstituierung einer unabhängigen Zentrumsbewegung aus. Sie distanzierten sich ohne Umschweife von ihrem bisherigen Regierungspartner, dem Wahlverlierer Jacques Chirac. „Das Schlimmste wäre nun eine Politik der ständigen Verweigerung“, erklärte Mitterrands Amtsvorgänger Giscard, dem aufgrund seiner persönlichen Beziehung zu Mitterrand nunmehr wieder eine Schlüsselrolle im französischen Parlament zukommen wird. „Man darf über eine Zensur (der neuen Regierung, G.B.) nicht im voraus entscheiden“, sagte Giscard und ließ damit seine Bereitschaft erkennen, die von Mitter rand zu ernennende Regierung zu tolerieren. Die UDF befürchtet eine rasche Auflösung des Parlaments und damit verbundene Neuwahlen, über die Mitterrand verfügen kann. Dank des wiedereingeführten Mehrheitswahlrechts wäre dann die Aussicht auf eine absolute Mehrheit der Sozialisten im Parlament wahrscheinlich, und die UDF würde ihre Rolle des derzeitigen Mehrheitsmachers für Mitterrand verlieren. Die Szenarien für Parlamentsneuwahlen, die in jedem Fall innerhalb dieses Jahres stattfinden dürften, sind zahlreich. Das Mehrheitswahlrecht gäbe einer neuen politischen Formation der Mitte, die Mitterrand benötigt, kaum Chancen. Die Wiedereinführung des Verhältniswahlrechts aber scheint ausgeschlossen, weil dann Le Pen möglicherweise als Wahlsieger erscheinen könnte. So laufen derzeit über den Elysee–Palast die Verhandlungen, inwieweit rechten Politikern Plätze auf den Wahllisten der Sozialisten eingeräumt werden können. Da es hierbei um lokalpolitisch sehr komplizierte Angelegenheiten geht, scheint eine Parlamentsauflösung noch vor der Sommerpause, über die Mitterrand bis zum 30. Mai entscheiden müßte, eher unwahrscheinlich. Dies dürfte jedoch die neue Regierung, deren Zusammensetzung diese Woche bekannt werden müßte, nicht daran hindern, alsbald erste Entscheidungen im Sinne der Wahlprogrammatik Mitterrands zu treffen. Die Einführung eines Mindesteinkommens für alle im Einklang mit einer Erhöhung der Vermögenssteuer steht als erste Maßnahme der neuen Regierung in Aussicht. Wer dann die Regierungsgeschäfte führt, darüber rätseln heute die Franzosen. Doch nicht mehr lange, wie es scheint. Franois Mitterrand wird den neuen Premierminister voraussichtlich nur wenige Stunden nach dem bereits am Montag erwarteten Rücktritt von Jacques Chirac ernennen. Georg Blume