Aids–Fahnder in der „Volksfürsorge“

■ Versicherung entwickelt Raster für Homosexuelle und bestimmte Berufsgruppen / Vorbild sind Versicherungen in den USA / „Bestand Aids–frei“ halten“

Hamburg (taz) - Das gewerkschaftseigene Versicherungsunternehmen „Volksfürsorge“ prüft sämtliche Neuanträge für Lebensversicherungen auf sogenannte Aids–Risiken. Dies geht aus einem „absolut internen Rundschreiben für die Führungszirkel des Unternehmens“ (Volksfürsorge–Sprecher Otte) hervor, das dem Norddeutschen Rundfunk zugespielt wurde. Seit Anfang des Jahres werden sämtliche Lebensversicherungsverträge vor der Unterzeichnung auf Indizien untersucht, die nach Meinung des Unternehmens für die Zugehörigkeit zu einer Aids– Risikogruppe sprechen. Das Aids–Raster zielt hauptsächlich auf Homosexuelle. Wenn ein unverheirateter Mann zwischen 20 und 55 Jahren einen anderen unverheirateten Mann als Begünstigten der Versicherungspolice einsetzt, gilt das als verdächtig. Wohnen die beiden Männer auch noch in derselben Wohnung zusammen, womöglich in Großstadtbezirken, die die Volksfürsorge zum homosexuellen „Milieu“ zählt, wird der Antrag einer besonderen Prüfung unterzogen. Auch bestimmte Berufsgruppen geraten ins Visier des drittgrößten Lebensversicherers: Piloten, „besonders bei kleineren Unternehmen mit speziellen Transportflügen (wie Buschpiloten etc.)“, Stewards bei Luftfahrtgesellschaften, Künstler „mit Umfeld (Bühne, Tanz, Mode, Design)“, Entwicklungshelfer und Friseure oder „Coiffeure (nur im Umfeld der Homosexualität)“. Auch unverheiratete, kinderlose Frauen im Alter von 18 bis 30 Jahren trifft der scharfe Blick der Volksfürsorge. Taucht in ihren Anträgen als Berufsbezeichnung „Hausfrau“ auf, und wird die Mutter als Begünstigte im Fall des vorzeitigen Todes eingesetzt, wittern die Prüfer eine Prostituierte. Bei insgesamt 20 AntragstellerInnen in den ersten vier Monaten dieses Jahres lagen nach Angaben Fortsetzung Seite 2 der Versicherung Indizien für ein Aids–Risiko vor. In zehn Fällen habe das Unternehmen einen HIV– Test verlangt, sagte ein Firmensprecher. In einem Fall sei eine HIV–Infektion bestätigt worden, sechsmal sei das Ergebnis negativ gewesen, und drei Antragsteller hätten sich nicht wieder gemeldet. Die Volksfürsorge unterstellt den Antragstellern betrügerische Absichten und verweist auf Erfahrungen aus den USA, wo die Assekuranzen Mehrausgaben bis zum Jahr 2000 in Höhe von 60 Milliarden Dollar befürchten, wenn sie - wie es im bundesdeutschen Branchenjargon heißt - „ihren Bestand nicht frei von Aids–Risiken halten“. Bei Vertragssummen über 250.000 Mark wollen die Lebensversicherer deshalb demnächst einen HIV–Test verlangen. Branchenführer Allianz fragt au ßerdem in den Antragsformularen nach einer HIV–Infektion. Die anderen Unternehmen wollen nachziehen. HIV–Infizierte werden nicht versichert, ihre Namen an eine Datei gemeldet, aus der sich die Branche über sogenannte Risikokunden informiert. Einen generellen HIV–Test bei Neuanträgen für Lebensversicherungen hält der Verband der Lebensversicherungsunternehmen derzeit für nicht durchsetzbar. Brancheninsider gehen deshalb davon aus, daß nicht nur die Volksfürsorge sich mit verdeckten Aids–Rastern vor unerwünschten Partnern schützen will. Die Deutsche Aids– Hilfe will juristisch überprüfen lassen, ob das Aids–Raster des Unternehmens als „sittenwidrig“ einzustufen ist. H.–G. Meyer–Thompson