Wer sitzt, macht sich strafbar

■ Bundesgerichtshof fällt Grundsatzurteil über Sitzblockaden / Politische Ziele dürfen nicht mehr berücksichtigt werden / Blockaden sind demnach immer „verwerflich“ / Oberlandesgerichte sind dem BGH–Urteil verpflichtet / Neue Klage vor dem Bundesverfassungsgericht?

Von Ursel Sieber

Berlin (taz) - Sitzblockaden von militärischen Einrichtungen müssen als gewaltsame und verwerfliche Nötigung geahndet werden. Die Ziele derjenigen, die gegen die „Nach“rüstung demonstriert haben, haben keinerlei Einfluß auf die „Rechtswidrigkeit“ von Blockadeaktionen. Allenfalls bei der Festsetzung des Strafmasses dürfen die Demonstrationsziele berücksichtigt werden. Diese Auffassung hat gestern der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einem Grundsatzurteil vertreten. Da der Bundesgerichtshof in letzter Instanz über die Anwendung des Strafrechts entscheidet, wird dieses Urteil für alle Nötigungs–Verfahren (ca. 4.000), die noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sind, von erheblicher Bedeutung sein: Die Oberlandesgerichte sind verpflichtet, die Auffassung des BGH zu vertreten. Auch die Amts– und Landesgerichte werden sich in ihrer Rechtsprechung daran orientieren, daß die Demonstrationsziele nicht berücksichtigt werden dürfen. Mit diesem Urteil will der Bundesgerichtshof die unterschiedliche Rechtssprechung bei den Blockadeprozessen vereinheitlichen. „Damit soll eine wichtige Auseinandersetzung in der Justiz abgewürgt und der Weg freigemacht werden für die Kriminalisierung des Zivilen Ungehorsams“, erklärten Klaus Vack vom Komitee für Grundrechte und Demokratie und Frank Niepel, Verteidiger in zahlreichen Blockade– Prozessen in einer gemeinsamen Stellungnahme. Bei den Oberlandesgerichten hatte es bisher sehr unterschiedliche Auffassungen über die Berücksichtigung der politischen Ziele von BlockiererInnen gegeben. So hatten sich die Oberlandesgerichte Köln, Düsseldorf, Zweibrücken und Oldenburg geweigert, Sitzblockaden als „verwerflich“ und damit als rechtswidrig anzusehen. Die Oberlandesgerichte Stuttgart und Koblenz sowie das bayrische Oberlandesgericht hatten die BlockiererInnen dagegen regelmäßig wegen Nötigung verurteilt. Auch das Bundesverfassungsgericht vermochte nicht zu klären, ob Blockaden gegen die Pershing– Stationierung verwerfliche Gewalt und damit Unrecht seien. Es entschied im Dezember 1986 mit einem Patt: Vier der acht Verfassungsrichter waren immerhin der Meinung, daß die Strafgerichte die Sitzblockaden „in der Regel nicht als verwerfliche Nötigung qualifizieren“ dürfen. Ausgang dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs war eine Blockadeaktion vor dem Sondermunitionslager Großengstingen (Kreis Reutlingen) am 9. Mai 1983, an der sich 15 DemonstrantInnen beteiligt hatten. Vier von ihnen waren danach vom Amtsgericht Münsingen wegen „gemeinschaftlicher Nötigung“ zu Geldstrafen verurteilt, in der Berufungsinstanz vom Landgericht Tübingen jedoch freigesprochen werden. Das Landgericht Tübingen hatte zwar eine „Gewaltanwendung“ der Angeklagten gesehen, angesichts der politischen Ziele die Tat jedoch nicht als „verwerflich“ beurteilt und die DemonstrantInnen freigesprochen. Diese Auffassung hat nun der Bundesgerichtshof gestern zurückgewiesen. Er begründete die Entscheidung damit, daß die Frage der Rechtswidrigkeit auch bei Straßenblockaden nur anhand „objektiver Kriterien“ geprüft werden könne. Fortsetzung Seite 2 Gastkommentar Seite 4 Die Unterscheidung zwischen „eigennützigen“ und „gemeinwohlorientierten Fernzielen“ sei dabei wegen ihrer Unbestimmtheit und wegen zweifelhafter Konsensfähigkeit für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit ungeeignet. „Die Verneinung der Verwerflichkeit und damit der Rechtswidrigkeit im strafrechtlichen Bereich würde Hemmungen, der eigenen politischen Überzeugung durch Behinderungen des öffentlichen Verkehrs Nachdruch zu verschaffen, weitgehend beseitigen und die jeweiligen Gegner zu gleichartigen oder gar nachhaltigeren Aktionen ermutigen“, heißt es in der BGH–Entscheidung. Mit diesem Urteil stelle sich der Bundesgerichtshof in „direktem Widerspruch“ zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 86, betonten Klaus Vack vom Komitee für Grundrechte und Demokratie und der Münchner Rechtsanwalt Frank Niepel. Die Verfassungsrichter hätten immerhin einstimmig festgestellt, daß die bei einer Sitzdemonstration angewandte „Gewalt“ die sogenannte „Verwerflichkeit“ nicht „indizieren“ dürfe. Rechtsanwalt Niebel betonte, daß nach dieser BGH–Entscheidung erneut mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zur rechnen sei. Die SPD–Rechtspolitikerin Herta Däubler–Gmelin hat die BGH–Entscheidung bedauert. Die SPD bleibe bei ihrer Auffas sung, daß symbolische Sitzblockaden „keine Gewalt darstellen und nicht nach Paragraph 240 bestraft werden dürften“. Regula Bott, Fraktionssprecherin der Grünen im Bundestag, bezeichnete das Urteil ironisch „als Glanznummer freiheitlicher Rechtssprechung“: Nicht die Aufrüstung sei strafbar, sondern der friedliche Protest dagegen. Justizminister Engelhard (FDP) hat das Urteil dagegen begrüßt: Sie bestätige „voll und ganz“ seine Auffassung, „daß Sitzblockaden strafbares Unrecht und als Nötigung zu ahnden sind“. Justizsprecher Schmid ließ offen, ob die geplante Verschärfung des Paragraphen 240 nach dem Urteil hinfällig geworden ist. (Az. 1StR5/88 - Beschluß vom 5.Mai 1988)