„Zum Teufel mit Eurer Atomenergie!“

■ Nur wenige Besucher verlieren sich in der 300 Quadratkilometer großen Sperrzone um Tschernobyl

Tschernobyl (afp) - Mit sehr gemischten Gefühlen betritt der Besucher zwei Jahre nach der Reaktorkatastrophe das Atomkraftwerk von Tschernobyl, wo das Personal trotz allem wieder seiner gewohnten Arbeit nachgeht. Wer sich dem Sperrgelände, der sogenannten „Zone“, an einem sonnigen Frühjahrstag nähert, dem geht die Schwere des größten Nuklearunfalls in der Geschichte der zivilen Kernkraftnutzung zunächst nicht unbedingt auf. Sobald er dann aber die verkohlten Bäume und die menschenleeren Dörfer mit den Spuren der ehemaligen Bewohner wahrnimmt, wird ihm das ganze Ausmaß der Katastrophe mehr als deutlich. Nur wenige Besucher verlieren sich in dieser Gegend 100 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wo sich seit dem 26. April 1986 ein 300 Quadratkilometer großer Sperrbezirk um die Kernkraftanlage erstreckt. Die Sicherheitsvorkehrungen innerhalb der Anlage scheinen für Besucher nicht besonders aufwendig zu sein: Zwei große Dosimeter zur Messung der radioaktiven Strahlung, die auf beiden Seiten der Eingangshalle angebracht sind, ein weißer Kittel und eine Mütze, die Besucher des Kontrollzentrums anlegen müssen - das ist schon alles, was für ihren Schutz getan wird. Eindrucksvoller als das Innere des Atomkraftwerks ist für den Nichtfachmann jedoch die Fahrt durch die „Zone“, die durch ein ausgedehntes Waldgebiet führt. Nur wenige Bäume sind wirklich verkohlt und haben ihr Laub verloren. Nicht zu übersehen ist jedoch die feuchte Straße, die regelmäßig von den Lastwagen des Kombinats besprengt wird, das mit den Ausbesserungsarbeiten in der Anlage und der Entstrahlung der „Zone“ beauftragt wurde. Einige Fahrer tragen eine Maske. Durch die dauernde Berieselung soll verhindert werden, daß der radioaktive Staub in die Atmosphäre gelangt. Schließlich erreicht man zwei verlassene Dörfer, Tschere watsch und Tschernobyl, deren evakuierte Bewohner überall ihre Spuren hinterlassen haben: In einer Hütte sind es die Gardinen, die der Wind durch das geöffnete Fenster bewegt, in einer anderen zeugen die geschlossenen Fensterläden davon, daß hier ein Mensch geschlafen hat. Irgendwo lehnt eine Harke an einem Holzzaun. In vielen Gärten stehen die Obstbäume in voller Blüte. An den Straßenrändern sprießt frisches Gras. Entgegen behördlicher Anordnung hat es inzwischen 200 ältere Menschen, die zu den 135.000 Evakuierten gehörten, wieder in ihre Dörfer zurückgezogen. Die Sehnsucht nach der Heimat war einfach stärker als die Vernunft. „Zum Teufel mit Eurer Atomenergie“, schimpfen sie lauthals, wenn sie auf die Gefahren der radioaktiven Strahlung hingewiesen werden, erklärt Alexander Kowalenko, der Leiter der internationalen Abteilung des Kombinats. Eine Begegnung mit ihnen ist jedoch nicht möglich. Zwischen dem Atomkraftzentrum und Pripiat, wo die Belegschaft bis zur Katastrophe wohnte, erstreckte sich früher der „Rote Wald“. Durch die radioaktive Strahlung sind alle Bäume verbrannt worden - die ganze Gegend ist nur noch eine einzige sandige Fläche. Um zu erforschen, ob auf dem verseuchten Boden trotzdem noch Vegetation gedeihen kann, pflanzen maskierte Arbeiter nun neue Bäume. Die Stadt Pripiat, die 1970 für die Angestellten der Kernkraftanlage gebaut wurde, ist heute eine Geisterstadt. Die Evakuierung ihrer 50.000 Einwohner habe damals ganze zweieinhalb Stunden gedauert, erklärt der Dolmetscher. Mit 1.000 Autobussen seien sie aus dem Katastrophengebiet gefahren worden. Alle seien heute gesund, versichert er. Die Plätze der Geisterstadt sind leer. Man geht die Bürgersteige entlang, die im Laufe der Zeit von Unkraut überwuchert worden sind. Alles deutet auf einen über stürzten Aufbruch. Durch ein geöffnetes Fenster blickt man in eine Schulbibliothek. Die Türen und Fenster sind alle versiegelt, sogar in den oberen Stockwerken. So kann man nur durch die schmutzigen Fensterscheiben in das Innere des Schulgebäudes schauen. Die Bücher stehen unberührt in den Regalen, eine Zeitschrift liegt aufgeschlagen auf einem Tisch. In einem anderen Zimmer steht ein geöffneter Schrank, auf dem sich der Staub fingerdick niedergelassen hat. Ein Hochzeitsfoto ist auf einem Tisch liegengeblieben. Plötzlich erklingt irgendwo Opernmusik. Über einen großen Lautsprecher wird ein Radioprogramm ausgestrahlt, das überall zu hören ist. Wie der Dolmetscher erklärt, sollen damit die Arbeiter des Entstrahlungstrupps unterhalten werden, die sonst die Geisterstille der Stadt nicht ertragen könnten. Die Stimme des Solisten kommt von den Häuserwänden als Echo wieder und verhallt in den menschenleeren Straßen... Pierre Glachant