Afghanistan ist nicht Iran

Den Schlag mit dem Rohrstock, den ihm der pakistanische Polizist verpaßt, weil er seinen Karren falsch aufgestellt hat, nimmt der afghanische Gemüsehändler hin und trollt sich - maulend zwar, aber ohne aufzubegehren. Und die übrigen herumstehenden, handelnden, handwerkelnden oder einfach nur müßig gaffenden Afghanen hier am „Burd“ kommentieren das Vorgehen des Ordnungshüters nur achselzuckend. Der „Burd“ - das ist einer der vielen Bezirke Peshawars, die das Klein–Afghanistan von Flüchtlingen und Widerstandsbewegung im Gastland Pakistan repräsentieren. Mit einer ähnlichen Geste zahlt auch der von einem pakistanischen Polizisten wegen einer tatsächlichen oder nur vermeintlichen Ordnungswidrigkeit angehaltene afghanische Busfahrer seine Strafe - wer Afghanistan von früher kennt, hätte Protest oder sogar physische Gegenwehr des Gemüsehändlers und seiner Landsleute erwartet. Und nur wenige Kilometer entfernt riskieren die Brüder, Väter und Onkel der gleichen Personen im Kampf gegen die Rote Armee ihr Leben - und das hat in Afghanistan viel eher Tradition. Für den Großteil der Bevölkerung waren staatliche Institutionen entweder nicht existent oder bedeutungslos gewesen - ein Grund, sich informell und auch mit Gewalt sein Recht zu holen. Viele solcher kleinen und großen Dinge, Handlungsweisen oder Ideen haben in den letzten zehn Jahren einen Wandel erfahren. Am Anfang stehen Flucht, Exil und die Notwen digkeit, unter völlig veränderten Bedingungen zu überleben. Die neuen Erfahrungen lösten einen Lern– und Bewußtseinsprozeß aus, der eine Art „interner Modernisierung“ darstellt. Die veränderten Werte wurden in der Widerstandsbewegung kanalisiert und geformt, die anfängliche Bauernerhebung erhielt so allmählich den Impetus und die Qualität einer revolutionären Bewegung: für eine neue Gesellschaft und einen neuen islamischen Staat. Ganz anders also, als es westliche Wahrnehmung häufig schildert, ist deshalb die afghanische Widerstandsbewegung heute keineswegs ein Hinterwäldlerauf stand gegen Modernisierung. Da marschieren nicht tumbe, analphabetische Bauern unter der Leitung fanatischer Geistlicher in einen Krieg gegen die Elektrifizierung, das Schulwesen und allgemeinen gesellschaftlichen Fort schritt. Und da stürzen sich auch nicht halb–bewußte oder entwicklungsgeschichtlich unterbelichtete Gestalten in Vorfreude auf das Paradies lachend in die Ketten sowjetischer Panzer. Was dem Leser solcher folkloristischer bis bornierter Schilderungen bleibt, ist ein diffuses Unbehagen - genährt von dem Unverständnis angesichts solcher anarchischen Kamikazekämpfer. Letztlich war es wohl auch die ses Unbehagen vor dem der Widerstandsbewegung angedichteten „anarcho–religiösen“ Komplex, das UdSSR und USA bewog, sich in guter kolonialistisch–imperialistischer Manier über die Köpfe der Afghanen hinweg zu verständigen. Ähnliches Unbehagen geistert auch durch die Köpfe jener, die Szenarien für Afghanistan spinnen, denen vor allem eines gemeinsam ist: die totale Unkenntnis des Landes und der seit zehn Jahren vor sich gehenden Veränderungen. In diesem Szenario rumort und wallt es unheilschwer hinter den Türen der verschiedenen Parteien und von charismatischen Führern geleiteten Gruppen. Dabei handelt es sich für die Widerstandsbewegung momentan gerade um die erste Etappe in der Verwirklichung ihrer Ziele. Erst ganz allmählich nehmen jene in den vergangenen Jahren diskutierten und erträumten Ziele Kon turen an. Die Rote Armee zieht ab, und die Kabuler Regierung ist lediglich noch der Sachverwalter ihrer eigenen Liquidierung. Man selbst kehrt heim. Heim in ein anderes Land. Ein anderes Land deshalb, weil sich die Gesellschaft verändert hat und die Perspektiven der Gesellschaft, die jetzt aufgebaut werden muß, anderen Wertvorstellungen und einer anderen politischen Kultur entstammen. Aber genausowenig, wie es das Land des ehemaligen Königs und seiner Entourage sein wird, ist es kein Land für die Verwirklichung eines iranisch gefärbten Fundamentalismus. Die Alltagserfahrungen des Gemüsehändlers stehen da gleichberechtigt neben der Erfahrung mit der kleinkarierten Giftigkeit des iranischen Fundamentalismus oder neben dem Alptraum moderner Folter– und Liquidierungsmethoden. Auch im Guten hat man gelernt, ständig mußten ethnische, religiöse, linguistische und geographische Grenzen überschritten werden. So erfuhr die Vielvölker–Widerstandsbewegung, was es heißt, sich selbst zu verwalten und militärisch zu organisieren. Natürlich hat sich damit auch das Verständnis für Grenzen und Gegensätze geschärft. Ob die in den letzten Jahren entwickelten Institutionen des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen (wie Ratsversammlungen und Räte) diese neuen Antagonismen zu kanalisieren vermögen, ist noch offen. Afghanistan ist jedenfalls nicht der Iran. Und da sich neue Erfahrungen nur über das Ferment der Traditionen vermitteln lassen, ist Hoffnung angesagt. Denn eine der Grundlagen der afghanischen Gesellschaft war und ist noch heute die sehr persönliche Vernetzung aller. Das vermag machtpolitische Entgleisungen sicherlich nicht zu verhindern - wie die Ereignisse der letzten zehn Jahre zeigen - , bietet aber eine gewisse Gewähr für die loyale Bewältigung der Zukunft durch die historischen Sieger: die afghanische Widerstandsbewegung. Jan–Heeren Grevemeyer