Moskaus Waterloo am Hindukusch

■ Mit dem beginnenden Abzug der Sowjets aus Afghanistan rücken die Mudjahedin nach

Der sowjetische Abzug hat begonnen, die Niederlage des Regimes scheint nur noch eine Frage der Zeit. Schon sind die Mudjahedin in die ersten von der Invasionsarmee aufgegebenen Distrikthauptstädte nachgerückt, für die nächsten Wochen wird mit einer Großoffensive im ganzen Land gerechnet. Doch was kommt danach? Ein Regime a la Khomeini? Oder hat der gemeinsame Widerstand die Vielvölker–Gesellschaft genauso verändert, wie die Distanz zur „kleinkarierten Giftigkeit des iranischen Fundamentalismus“ gwachsen ist.

„Der Abzug der Soldaten, das ist kein Zurückweichen, das ist das Ende einer internationalen Mission und das Erfüllen der Verträge von Genf“, erklärte der Befehlshaber der sowjetischen Truppen in Aghanistan, Generalleutnant Boris Gromow am Samstag vor Journalisten in Kabul. „Nicht einmal die kleinste Einheit“ der Roten Armee sei vor dem Feind in die Knie gegangen, brüstet sich der Militär und deutet damit aus seiner Sicht, worauf es der sowjetischen Führung beim Abzug aus Afghanistan vor allem ankommt: die politische und militärische Niederlage in einen Sieg umzumünzen. Und tatsächlich: Die internationale Öffentlichkeit nimmt mit Erleichterung zur Kenntnis, daß bis zum Gipfeltreffen in Moskau Ende Mai ein Viertel der 120.000 Sowjetsoldaten das Land verlassen haben soll. Wenn Gorbatschow das militärische Abenteuer in Afghanistan beendet, sind ihm Lorbeeren im In– und Ausland gewiß. Auch wenn er gestürzt würde - so heißt es bei kritischen Geistern in Moskau -, „der Rückzug aus Afghanistan wird ihn in unseren Geschichtsbüchern unsterblich machen“. Vielleicht wird irgendwann in der sowjetischen Öffentlichkeit auch das gesamte Ausmaß der „internationalisischen Pflichterfüllung“ deutlich werden können. Denn wer weiß dort schon heute von den zwölf Millionen Flüchtlingen, die der Krieg mit sich brachte? Davon, daß mehr als 3,5 Millionen Afghanen nach Pakistan, 2,5 Millionen in den Iran und ins westliche Ausland fliehen mußten - oft unter Lebensgefahr - und daß weitere Millionen im Lande selbst herumirrten oder in die Städte flohen, um den Bomben und Raketen zu entfliehen? Nichts ist mehr so, wie es vor dem Krieg einmal war: Kein Stein steht mehr auf dem anderen. Nach einer Schätzung von „medicin du monde“ wurde fast jedes Dorf während der vergangenen acht Jahre wenigstens einmal bombar diert. 80 Prozent der Bewässerungssysteme wurden zerstört und nach einer Schätzung der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ über eine Million Menschen getötet, davon Hunderttausende allein durch die Bombardements und die Splitterbomben der Sowjets. Wie sollen die Afghanen beider Seiten künftig mit der Tatsache umgehen, daß bis 1986 ständig über 50.000 politische Gefangene in den Gefängnissen gehalten und Tausende gefoltert wurden? Daß schon unter dem Präsidenten Taraki, vor dem Einmarsch, 15.000 Regimegegner erschossen, dann unter Amin 17.000 weitere exekutiert wurden, bevor der heutige Präsident Nadjibullah in den 80er Jahren als Geheimdienstchef sein blutiges Handwerk betrieb? Wie wird die Wahrheit über die Vergewaltigungen von weiblichen Gefangenen und Frauen in den Dörfern durch afghanische und sowjetische Soldaten wirken, und wie die Enthüllung, daß die Folter unter den Augen sowjetischer Experten zur normalen Prozedur geworden war? Der Sowjetunion steht eine neue Geschichtsdebatte ins Haus, die noch schmerzvoller - weil zeitlich näher - werden könnte als jene über Stalins Verbrechen. „Die schweren Prüfungen“, die die sowjetischen Soldaten hinter sich haben, wie das ZK in Moskau sich in einer Erklärung zum Wochenende ausdrückte, stehen der sowjetischen Gesellschaft noch bevor. In Afghanistan selbst könnten die offenen Rechnungen schon sehr schnell beglichen werden. Die militärische Lage, das zeichnet sich schon jetzt ab, wird sich schnell zugunsten der Mudjahedin verschieben. Von „wenigen Wochen“ bis zu „ein Jahr“ reichen die Schätzungen über die Lebensdauer des kommunistischen Staats. Die Garnisonen an der Grenze zu Pakistan werden wohl nach dem Abzug der Sowjets nur kurze Zeit dem Druck des Widerstands standhalten können. Auch Kandahar, die zweitgrößte Stadt des Landes, wird nach Ansicht westlicher Militärexperten schon in wenigen Wochen an die Mudjahedin fallen, zumal die Kämpfer der Hesb–e–Islami von Junis Chalis trotz heftiger Bombenangriffe seit einem Jahr einige Vororte der Stadt besetzt halten konnten. Das Schicksal der Stadt Herat wiederum hängt unmittelbar davon ab, ob die Kabuler Armee, auf sich gestellt, den wichtigen sowjetischen Stützpunkt Schindand halten kann. Auch hier warten die Mudjahedin nur auf den Abzug der Sowjets, um mit einem Großangriff zu beginnen. Schon jetzt gefährdet sind auch die Garnisonen in den Grenzprovinzen Kunar, Nangahrar, Logar Paktia und Ghazni. Mehrere Distrikthauptstädte, darunter Chamkani in Logar und Barikot in Kunar, aus denen sich die Sowjets schon zurückgezogen haben, sind von den Mudjahedin eingenommen worden. Um jeden Preis halten müssen die Regierungssoldaten allerdings die Hauptstadt der Provinz Nanghahrar, Jalalabad, wo der sowjetische Truppenabzug am Donnerstag begonnen hat. Sie ist zum Schutz der Straße nach Kabul und der Elektrizitätswerke, die die Hauptstadt mit Strom versorgen, von allergrößter Wichtigkeit für das Regime. Kabul selbst und die nördlchen Provinzen Kunduz, Fariab und Samagan sind bisher noch nicht gefährdet. Doch auch dort warten die Mudjahedin nur darauf, entscheidende militärische Schläge nach dem Abzug der sowjetischen Truppen zu führen. Angesichts dieser Lage ist die Diskussion zwischen den Mudjahedinführern in Peshawar, ob der Krieg schon jetzt verstärkt oder der Rückzug der sowjetischen Truppen abgewartet werden soll, bereits überholt, wie viele Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden politischen Organisationen und Parteien. Erich Rathfelder