„Es werden Sündenböcke rausgegriffen“

■ Verhaftete und wieder freigelassene Studenten der Universität Istanbul über ihre Behandlung während der Haft und die obskuren Gründe der Universitätsleitung, mit denen gegen sie Disziplinarverfahren eingeleitet werden

taz: Ihr seid sechs Tage auf der Polizeiwache gewesen. Wie war es drinnen? Sie brachten uns zur Polizeistation Gayrettepe. Unsere Augen waren verbunden, oder wir durften nur auf den Boden schauen. In Gayrettepe wurde Ausweiskontrolle gemacht. Zwei bis drei Stunden verbrachten wir im Hocksitz an einem kalten Ort, wo es nach Urin stank. Sie fluchten und pöbelten die Frauen an. Danach mußten wir uns ausziehen und wurden zum Fotografieren, wie sie es nannten, abgeführt. Jeder kam der Reihe nach in einen Raum und wurde einzeln verprügelt. Danach wurden wir in die Zellen eingewiesen. In einer Zelle von vier bis fünf qm waren 15, 20 oder 25 Menschen. Manchmal waren in Einzelzellen zwölf Personen. Wir lagen alle aufeinander. Einen Tag später wurden wir an einen anderen Ort gebracht. Wie wir später erfahren haben, war dies die Polizeistation auf dem Flughafen. Die Zellen dort waren normal, es gab sogar Wasser. Wir begannen dort den Hungerstreik und forderten, beim Staats anwalt vorgeführt zu werden. Wir sind nach sechs Tagen mit anderen zusammen entlassen worden. Ein Teil unserer Freunde sitzt noch. Ein Freund von uns ist während der Untersuchungshaft verschwunden. Sie brachten ihn weg, und er wurde später auch nicht beim Staatssicherheitsgericht vorgeführt. Gegen euch werden Disziplinarverfahren eröffnet. Mit welchen Begründungen werden derartige Verfahren eingeleitet? Die Angestellten der Universität hatten seit geraumer Zeit keine Lohnauszahlungen erhalten. Sie sind zum Dekan gegangen und wollten ihn sprechen. Das Dekanat hat daraufhin sofort einige Studenten zum Sündenbock erklärt und Disziplinarverfahren gegen sie eröffnet, mit der Begründung, sie hätten Arbeiter aufgehetzt. Wir haben aus Protest gegen die Verteuerung des Mensaessens die Mensa boykottiert und Salz in unser Essen gekippt. Wegen Versalzung des Mensaessens wurden daraufhin Disziplinarverfahren eingeleitet. Selbst wenn sie nicht an einer Aktion beteiligt sind, wenn sie nichts damit zu tun haben, werden Verfahren gegen Studenten eingeleitet, einfach, weil sie bestimmte Personen auf dem Kieker haben. Wenn wir beweisen, daß wir gar nicht am Ort des Geschehens waren, sondern im Haus eines Freundes oder in der Bibliothek, ziehen sie das Verfahren zurück. Das heißt, uns wird die Beweispflicht auferlegt. Sie geben sich überhaupt keine Mühe zu prüfen, ob die Vorwürfe stimmen. 158 wurden am 28. April verhaftet. Ein Disziplinarverfahren gegen einen Kommilitonen lautet folgendermaßen: „Sie haben zwar nachgewiesen, daß sie an der Besetzung des Rektorats nicht beteiligt waren. Nichtsdestotrotz sind wir zu der Überzeugung gekommen, daß Sie sich aufgrund ihrer sonstigen Haltung daran beteiligt hätten, wenn sie anwesend gewesen wären.“ Was für eine Universität wollt ihr? Eine Universität, wo frei gelehrt und geforscht wird. Wir sagen Wissenschaft rein, Polizei raus!