„Wissenschaft rein, Polizei raus“

■ In der Türkei protestieren die Studenten gegen die Kasernierung der Unis / Aus Istanbul Ömer Erzeren

Seit Wochen herrscht unter den Studenten an den türkischen Universitäten Unmut. Knüppeleinsatz und Verhaftungen waren die Reaktionen der Polizei. Der Grund für den Protest ist die totale Kontrolle einer durch die Militärs eingesetzten Hochschulbehörde und die restriktiven Hochschulgesetze, die nach dem Putsch 1980 verabschiedet wurden. Noch ist die Widerstandskraft der Studenten ungebrochen. Aber die Militärs planen bereits eine ideologische und militärische Gegenoffensive.

Es ist irgendwie beunruhigend. Der fremde junge Mann mit Notizblock in den Händen und Pistole im Gürtel mustert uns aufmerksam aus einer Entfernung von fünf Metern und protokolliert unser Gespräch mit. Ich sitze mit fünf Studenten auf dem Rasen innerhalb des Universitätsgeländes und unterhalte mich über die jüngsten Auseinandersetzungen mit der Polizei. Als ich auf den bewaffneten Mann verweise, werde ich von den Studenten belächelt. „Die sind überall. Die kommen mit ihren Knarren und ihren Walkie Talkies auch in die Seminare und Vorlesungen. Auf die muß man sich einstellen.“ Alltag an der Universität Istanbul. Über 300 Studenten sind in den vergangenen Wochen von der Polizei verhaftet worden. Die meisten wurden aus dem Universitätsgelände in die Polizeibusse geprügelt. Ein Teil kam nach wenigen Tagen frei, andere sitzen noch in Haft. Der Campus der Universität gleicht einer belagerten Stadt: Alle Ein– und Ausgänge werden von der Polizei kontrolliert, auf dem Campusgelände steht uniformierte Schutzpolizei mit Maschinenpistolen. Mit Knüppeln gegen die Studenten Der schwerste Konflikt an den Universitäten seit dem Militärputsch 1980 entzündete sich am 28. April in der Istanbul Universität. Nachdem sechs Studenten, die bei der Univerwaltung gegen die sexistische Anpöbelung einer Kommilitonin durch einen Zivilpolizisten protestiert hatten, wurden diese in der Kantine von einem Trupp Polizisten niedergeschlagen und verhaftet. Der Protest von über tausend Studenten vor dem Rektorat endete mit einem Gewaltakt der Polizei: Auf die Studenten ging der Knüppel los. 158 wurden verhaftet. Seit diesem Tag hört der studentische Protest nicht auf. Immer wieder sammeln sich spontan Gruppen, skandieren die Parole „Wissenschaft rein, Polizei raus“, um sofort zu flüchten, wenn die Polizei eintrifft. Die reagiert unter dem Beifall der Universitätsleitung mit immer neuen Verhaftungen. „Diese Hunde haben meine Polizei angegriffen“, so der stellvertretende Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Solidaritätsaktionen für die Istanbuler Studenten Die Vorfälle an der Universität Istanbul entzündeten einen Flächenbrand an allen größeren Universitäten des Landes: in Istanbul, Ankara, Izmir, Adana, Kocöli und Diyarbakir. Es waren Solidaritätsaktionen für die verhafteten Studenten in Istanbul. Zudem wurde des vor einem Jahr während der Fastenzeit Ramadan ermordeten Studenten Sirin Tekin gedacht. Faschisten hatten ihn nach Aufhetzung durch rechtsextremes Lehrpersonal ermordet, weil er während der Fastenzeit geraucht hatte. Doch der studentische Unmut hat nicht nur die Präsenz von Polizei zur Ursache. Nach dem Militärputsch wurde die universitäre Selbstverwaltung aufgehoben. Die Militärs verabschiedeten 1981 ein Hochschulgesetz, das die Universitäten der totalen Kontrolle einer staatlich ernannten Hochschulbehörde unterwarf. General Kenan Evren, der den Staatsstreich anführte und jetzt Staatspräsident ist, der Generalstabschef und der Ministerpräsident bestimmen u.a. die Zusammensetzung der Hochschulbehörde Yök. Diese kann nach Belieben Universitäten und Fakultäten gründen und auflösen, ernennt die Rektoren, bestimmt Budget und Zusammensetzung des Lehrkörpers. Nach Verabschiedung des Gesetzes kündigten über 1.500 Dozenten. 443 Dozenten wurden 1982 durch das berüchtigte Gesetz Nr. 1402 - der Einfachheit halber numerierte das Militärregime die Gesetze - von den Universitäten entlassen. Mit diesem Gesetz wurde den Kriegsrechtskommandanten das Recht gegeben, ohne Begründung Hochschullehrer zu entlassen. Rund sieben Prozent des akademischen Lehrkörpers an den Universitäten mußten gehen. Aus der gültigen Kleiderordnung für Dozentinnen: „Die Kleider müssen sauber, ordentlich und gebügelt sein. Die Schuhe müssen normale Absätze haben und geputzt sein. Die Haare müssen ordentlich gekämmt sein. Hosen sowie Blusen und Kleider, die ärmellos sind oder einen Ausschnitt haben, sind verboten. Es ist auch verboten, Röcke zu tragen, die oberhalb der Kniehöhe enden.“ Männliche Dozenten wurden wegen Tragen eines Bartes entlassen. Die Kleiderordnung symbolisiert als ein Beispiel die Kasernierung der Universitäten nach dem Putsch. Für die Studenten steht im Rahmen des verschulten Studiums militärischer Drill und Indoktrination auf der Tagesordnung. Gegen Tausende von Studenten laufen Disziplinarverfahren wegen Lappalien. „Unanständiges Benehmen gegen Kommilitonen“ oder „Teilnahme an einer Kundgebung außerhalb der Universität“ kann zur Zwangsexmatrikulation führen. Mit der Kasernierung der Universität ging die ideologische Indoktrination einher. Ein Pflichtfach „Atatürkische Prinzipien und Revolutionsgeschichte“, bevorzugt von neuangestellten, nichtakademischen Lehrkräften unterrichtet, wurde eingeführt. „Ziel des Studiums ist es, die Studenten zu Menschen mit nationalen, sittlichen, menschlichen und kulturellen Werten zu erziehen, die Glück und Ehre empfinden, weil sie Türken sind“, heißt es im Paragraph vier des Hochschulgesetzes. Generaloffensive gegen den „linksradikalen Sumpf“ „Wir haben diese Barbarei mit dem Hochschulgesetz lange genug mitgemacht. Wir haben die Schnauze endgültig voll“, sagt eine der Studentinnen - so laut, daß der Zivilpolizist sie deutlich hören kann. Doch die Karten stehen schlecht für sie. Nach Protesten der islamischen Fundamentalisten gegen das Verbot von Kopftüchern an den Unis im vergangenen Jahr, konnten sich die Universitätsverwaltungen und die Hoch schulbehörde konzessionsbereit zeigen. Doch das Hochschulgesetz, gedacht, um die Studenten von „zersetzender“, linker Ideologie fernzuhalten, ist ein juristisches Lieblingswerk der Militärs, an dem zu rütteln ein Tabu ist. Der Staat ist derzeit in Vorbereitung einer ideologischen und militärischen Generaloffensive. Der Nationale Sicherheitsrat, das institutionalisierte Schattenkabinett der Ex–Putschisten, tagte, um die Lage an den Universitäten zu besprechen. Mit Videovorführung gaben Polizeipräsidenten dem Erziehungsminister, Gouverneuren, Mitgliedern der Hochschulbehörde und den Rektoren ein Briefing zu den Studentenunruhen. Exakt 74 linksradikale Studenten seien die Anführer. Trockne man diesen linksradikalen Sumpf aus, werde wieder Ruhe und Ordnung herrschen. Dann kehren wieder Zustände ein, die sich die zwei befreundeten prominenten Ehrendoktoren der türkischen Universitäten wünschen: Nämlich der Anführer des Putsches und jetzige Staatspräsident Kenan Evren und Ziya ül Halk, pakistanischer Diktator.