Durchmarsch der Reformer

Sonntag um 21 Uhr, zwei Stunden später als ursprünglich geplant, stand das Ergebnis der dreitägigen außerordentlichen Parteikonferenz der ungarischen Kommunisten fest: Karoly Grosz, der seit Juni letzten Jahres amtierende Ministerpräsident des Landes, löst Janos Kadar auf dem Posten des Generalsekretärs der Partei ab. Die Ära Kadar ist nach 32 Jahren nun zu Ende. Der reformerische Flügel hat auf der ganzen Linie gesiegt, die alten Funktionäre sind abgelöst. Alle Opponenten der Wirtschaftsreform mußten das ZK verlassen, und im Politbüro sind die radikalen Wirtschaftsreformer und Erneuerer nun unter sich. Geradezu symbolisch ist die Rückkehr des „Vaters der Wirtschaftsreform von 1968“, Reszö Nyers, in das Zentrum der Macht. Für Nyers, dessen weitreichende Reformvorschläge Janos Kadar Anfang der siebziger Jahre zurückstutzte und der 1973 sogar aus dem Politbüro ausgeschlossen wurde, ist die Wahl ein persönlicher Triumpf. Mit Imre Poszgay, dem Vorsitzenden der „Volksfront“, ist ein Reformer ins höchste Gremium der Partei aufgerückt, der seit Jahren die Partei hin zur Gesellschaft öffnen will und der sich auch nicht scheut, mit Oppositionellen Kontakt aufzunehmen. Zu den „Neuen“ im Politbüro zählen außerdem die Parteisekretäre Janos Lukazs und Miklos Nemeth sowie der Bürgermeister von Budapest, Pal Ivanyi. Endlich ist mit der Direktorin der Taurus–Reifenwerke nach der Sozialministerin Judit Csehak eine weitere profilierte Frau im Politbüro der ungarischen KP vertreten. Und die anderen verbliebenen Mitglieder, der Parteiideologe Janos Berecz und der Landwirtschaftsexperte Istvan Szabo, gelten seit jeher als Reformer. Mit Csaba Hamori ist der erst 39 jähriger Leiter der Jugendbewegung der Partei aufgerückt. Unter den neuen Mitgliedern des ZK sticht Ivan Berend, der als Reformer bekannte Präsident der Akademie der Wissenschaften, hervor. Außerdem wurden die Leiter dreier besonders erfolgreicher Unternehmen in das Zk gewählt: die Direktoren eines Grand Hotels in Budapest, einer pharmazeutischen Firma und eines Videowerks. Mit dieser Mannschaft bietet sich Ministerpräsident Grosz die Chance, nicht mehr nur zu reden, sondern auch zu handeln. Als eines seiner ersten Amtshandlungen kündigte Grosz in einem Interview im ungarischen Fernsehen ein wirtschaftliches Sparprogramm an, mit dem die neue Führung die wachsende Auslandsverschuldung und das sich ausweitende Haushaltsdefizit bekämpfen will. Damit setzt er die Linie seiner Politik fort, die sich schon im letzten Herbst andeutete: Damals wurden die Einkommens steuer und die Mehrwertsteuer vom ungarischen Parlament eingeführt, ein Novum in der Steuergesetzgebung der Länder des Realen Sozialismus. Grosz profilierte sich damals wie heute als harter und entschlossener Macher. Von zu weitgehenden politischen Reformen dagegen hält er nicht so viel, wie es manche Reformer wünschen. Grosz zeigte sich auf der Konferenz als Mann des Parteiapparats - entschlossen, dessen Machtmonopol unter allen Umständen zu wahren. Die wichtigste Aufgabe sei für ihn nach wie vor die „Festigung der Macht der Partei“, erklärte er während der Aussprache und konnte damit - gestützt durch sein Image als Wirtschaftsreformer - die Mehrheit der Delegierten um sich scharen. Sowohl diejenigen, die für eine radikale Demokratisierung der Gesellschaft eintreten als auch jene, die nach einer ordnenden starken Hand verlangen und sich im Grunde eine Gesellschaft der Ruhe und Ordnung zurücksehnen, haben für Grosz votiert. So gesehen, ist der neue Generalsekretär ein Kandidat des Kompromisses. Konflikte im Politbüro scheinen vorprogrammiert. Die Frage wird sein, ob die Partei bereit sein wird, von unten kommende Initiativen in Politik und Wirtschaft Raum zu lassen und einen Teil der Macht im Staate und in der Gesellschaft abzugeben. Mit Imre Poszgay ist nun ein Mann im Politbüro, der in seiner dramatischen und mit vielen Zitaten aus der ungarischen Literatur geschmückten Rede ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Rechtsstaat abgab. Und damit ist Grosz schon jetzt ein Konkurrent zugewachsen, der ebenfalls über große Ausstrahlungskraft verfügt. Die Ära Kadar ist während dieser Parteikonferenz nicht nur personell zu Ende gegangen. Die Möglichkeiten für Änderungen innerhalb des sozialistisch–zentralistischen Rahmens sind erschöpft. Dem gesellschaftlichen Kompromiß, der die Regierungszeit Kadars auszeichnete, ist nun der Boden entzogen: der Politik nämlich, die individuelle Initiative und das selbständige Denken in ein Reservat zu verweisen, ohne an den Grundzügen des Systems rütteln zu lassen. Übersehen werden darf aber auch nicht, daß viele Ungarn nach über 40 Jahren Sozialismus individuelle Verantwortung, Selbständigkeit und Risikobereitschaft zu übernehmen nicht gewohnt sind und sich vor Veränderungen fürchten. Da es zudem kein Netz der sozialen Sicherheit gibt und sich die meisten in den „gesellschaftlichen Institutionen“ noch nicht vertreten fühlen, wird jeder Schritt der Modernisierung auch gegen Teile der Bevölkerung durchgesetzt werden müssen. Ob dies auf dem Wege einer technokratischen Diktatur oder auf dem der politischen Kompromisse geschehen wird, ist auch nach der Parteikonferenz noch offen. Die Zusammensetzung des neuen Politbüros jedoch läßt die Hoffnungen auf eine Reform an Haupt und Gliedern jedoch wachsen. Krisztina Koenen /er P O R T R Ä T