Ordnung - Opium der Männer

Das Filmfestival von Cannes ähnelt einer Bordellgasse. Die Anbieter paradieren, kuppeln und preisen an. Die Käufer verstopfen die Straßen, als wären die Mädchen billig und jeder Tag Zahltag. Die Besucher dieses Spektakels kennen keine Müdigkeit. Ich hatte geglaubt, dieser Trubel herrsche nur am Eröffnungsabend, um das Geglitzer besser mitzukriegen, aber jeden lieben langen Tag drängen sich vor den Theatern und an den Straßen die Massen und warten auf Schaugrößen. Vielleicht ist es ja auch falsch, wenn ich mir all diese Filme anschaue. Vielleicht ist draußen die bessere Show. Immerhin gibt es ein paar Filme, die mit dem Rummel auf den Boulevards und am Strand konkurrieren können. Und einige laufen sogar im Hauptwettbewerb. Peter Greenaways Drowning by Numbers zum Beispiel - für mich eins der besten Angebote des Festivals, wenn man ein Faible für Obsession und Verfall hat. Wie alle Filme Greenaways - Der Kontrakt des Zeichners, Ein Z und zwei Nullen, Der Bauch des Ar - ist Drowning geprägt von der Faszination angesichts der anstrengenden Bemühungen des Mannes, selbst dann noch Ordnung zu verbreiten, wenn seine Wissenschaften um ihn herum bereits in Verfall übergehen. In Der Kontrakt des Zeichners zielt Greenaway auf den Bereich des architektonischen Zeichnens, in Z ist es Biologie und Zoologie. Der Bauch des Architekten spricht für sich, und Drowning handelt von Zahlen jeglicher Art: Buchführung, Statistik, Auflistung und Auszeichnung bei Arbeit, Sport und Spiel. Männer erschöpfen sich in ihrem fieberhaften Suchen nach Genauigkeit, und obwohl ihre Ermüdung unvermeidlich das Chaos und den körperlichen Verfall vorantreibt, können sie doch nicht davon lassen. Ordnung ist das Opium des Volkes, die Religion nur eine Droge von vielen. Und Männer brauchen ihre Fixierung. Frauen nicht. In Greenaways Welt sind die Frauen dem hektischen Bauen der Männer gegenüber so gleichgültig, daß sie sich noch nicht einmal herablassen, ein Wort über diese Torheiten zu verlieren. Frauen manipulieren jedoch durchaus die zwanghafte Ordnung der Männer für ihre Zwecke - intuitiv natürlich, niemals planhaft. Frauen - primitiv wie sie sind - leben und sterben, gebären und morden und gängeln ihre Ehemänner und Geliebten mit diesen Liebes–und–Todes–Plänen, indem sie die Männer in ihrem Kalkulationswahn untergehen lassen. Kurz: Männer sind Trottel, das hat Eva schon vor langer Zeit bewiesen. Greenaways Genie liegt darin, wie dicht und wie frisch er die alte Geschichte aufs neue erzählt. Greenaway ist selbst ein Fanatiker der Kontrolle über das Chaos - die Organisation seiner Bildmassen ist implizit immer auch Thema seiner Filme; er erschafft zugleich die elaboriertesten Versionen männlicher Wissenschaft und die verschwenderischsten Ergüsse des triumphierenden Verfalls der Natur. Seine Bilder sind schwindelerregende Meisterwerke des Rokoko–Mülls, trunkene Strudel üppiger Exzesse. Ähnlichen Überschwang erwartete ich von Pedro Almodovars Women on the Verge of a Ner, aber er erwies sich als eine eher stromlinienförmige Satire. Women on the Verge bedeutet für Genrefilme das gleiche wie Andy Warhols Suppendose für Fertiggerichte. Eine unwahrscheinliche, manische Geschichte um eine Frau, die von ihrem Liebhaber verlassen wird, um die Exfrau des Geliebten, deren Sohn und dessen Verlobte sowie ein paar schiitische Terroristen: Der Film knöpft sich jedes Genre vor - Krimi, Melodram, Slapstick, alle Arten Kitsch, bis hin zu Waschmittelspots. Politisch erhielt das Festival seinen Schwung von Marcel Ophuls Hotel Terminus. Der Film hat Nazi–Scheußlichkeiten zum Thema - und die Komplizenschaft, Selbsttäuschung und selbstgerechte Blindheit derer, die sie geschehen ließen. Ophuls untersucht Kriegs– und Nachkriegszeiten, interviewt Opfer von Barbies SS–Abteilung, Franzosen, Deutsche und - am sensationellsten - Angehörige des amerikanischen Geheimdienstes, die Barbie gelassen für ihre Aktivitäten im Kalten Krieg einsetzten. Der Drang, die Statistik und die Geschichte des Schreckens aufzuzeichnen, liegt Chris Menges Anti–Apartheid–Film A World Apart zugrunde. Er steckt auch hinter Thomas Braschs Welcome to Ger, ebenfalls ein Film über Komplizenschaft und Selbsttäuschung während des Holocaust, mit Tony Curtis in einer eigenartig schwerfälligen Rolle. Und er bewegt auch Bill Coutouries Liebes Amerika: Briefe aus Vietnam, der Briefe von amerikanischen Soldaten mit Kriegssequenzen vermischt, mit Nachrichtensendungen von 1964 bis 1975 und der Popmusik aus jedem Kriegsjahr. Auch wenn er das Einfühlungsvermögen schärft und Achtung vor dem Leiden in Vietnam hervorruft, vermittelt der Film nicht den Eindruck, wir hätten diese Tode oder die Tode späterer Kriege verhindern können. Wir glauben, gewissenhaft, wie ein Ritual, daß die Aufzeichnung jedes Details des Leidens unsere Erinnerung stärken und daß diese Erinnerung das Chaos beim nächsten Mal verhindern werde. Vielleicht verleiht es uns - insbesondere Filmemachern und Archivaren - ein Gefühl der Kontrolle über die Katastrophe. Aber menschliche Wesen lassen sich durch Wissen nicht überzeugen, so vollständig es sein mag, und die Erinnerung hat noch niemals eine Kugel oder einen Schlag aufgehalten. Das eigentlich Hoffnungslose dieser Filme liegt in der Wiederholung ihrer Ohnmacht. Marcia Pally Aus dem Amerikanischen von MeinDie Journalistin Marcia Pally ist in den USA als militante Feministin und als Chef–Filmkritikerin des Penthouse bekannt