Der 19. Parteikonferenz entgegen

■ In Moskau stellte das ZK–Plenum die Weichen für die Allunions–Konferenz der KPdSU Ende Juli

Mit einer Parteikonferenz, dem höchsten Gremium zwischen den Parteitagen, will Gorbatschow die „zweite Phase“ seines Umbauprogramms einleiten. So nimmt es nicht wunder, daß Reformer wie Bremser längst um die erste Ausgangsposition am 28. Juni kämpfen. Die sowjetische Presse ist voll von Leserbriefen und Kommentaren, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Um Wahlmodus und Kandidaten für die Delegiertenwahlen wird heftig gestritten.

„Ich sage es aufrichtig und offen: Wir alle haben uns noch nicht umgestellt, sondern sind erst dabei, dies zu tun“, definierte Michail Gorbatschow kürzlich den Stand der Perestroika. Denn nicht nur die „eigennützigen Interessen“ nährten den Konservativismus und die Widerstände gegen die Reform, sondern auch die Psychologie aller Sowjetbürger. Der „Dogmatismus des Denkens“, die „Klischees“ und die „Angst vor dem Neuen“ seien die wirklichen Hemmungen für den Wandel. In der zweiten Phase der Perestroika komme es vor allem darauf an, so Gorbatschow, die „Entfremdung“ zu überwinden, „die es leider im Sozialismus gibt, wenn dieser durch autoritäre und bürokratische Verzerrungen deformiert wird. Die Demokratisierung der Gesellschaft, der Partei und des Staates soll jetzt endlich in konkrete Formen gegossen werden. Und dies soll auf einer außerordentlichen Parteikonferenz, einem Zwischenparteitag, der für den 28. Juni 1988 einberufen worden ist, geschehen. Dabei ist es durch aus bemerkenswert, daß diese „19. Unions–Parteikonferenz“ die erste seit 50 Jahren ist. Ein Kommentator des theoretischen Organs der KPdSU Kommunist, der stellvertretende Chefredakteur Sergej Kolesnikow, schlug kürzlich in die gleiche Kerbe und machte damit klar, worum sich die Diskussionen im Zentralkomitee, das seit Montag in Moskau tagt, drehen. Dort sollen nämlich die Richtlinien für den Zwischenparteitag verabschiedet werden. Das bisherige Wahlsystem müsse, so Kolesnikow, reformiert und die Struktur der Verwaltung radikal geändert werden. Der Verwaltungsmechanismus müsse zuverlässig und demokratisch kontrollierbar sein, und es müsse sichere rechtliche Schutzregularien für die Bürger geben. „Die Sowjets haben ihre ursprüngliche Rolle als Bevollmächtigte des Volkes und als Entscheidungsorgane in mancher Hinsicht verloren.“ Hier gelte es anzusetzen und den Volksdeputierten mehr Macht zu geben. Dazu gehöre auch, die bisher ehrenamtlichen Deputierten zu Berufsabgeordneten zu machen und sie „für einige Monate im Jahr von ihrer hauptamtlichen Arbeit zu befreien“. Auch könne man daran denken, eine Art Rotationsprinzip bei den Spitzenfunktionären einzuführen. Die höchsten Parteiämter sollten nur für zwei oder höchstens drei Legislaturperioden mit der gleichen Person besetzt werden. Die Gewerkschaften und die Vertretungen der Berufsgruppen, müßten einer harten Kritik unterzogen werden. Auch wenn die bisher entstandenen informellen Gruppen „Entstellungen und extremistische Erscheinugen“ hervorgebracht hätten – Kolesnikow meint hier vor allem die rechtsradikale Pamjatgruppe – seien unabhängige Gruppierungen zukünftig unentbehrlich. „Die Menschen in der sowjetischen Gesellschaft sollten sich nach sozialen und anderen Interessen vereinigen“, schlägt der Reformer vor und erhofft sich davon deren Aktivierung zum gesellschaftlichen Engagement. Noch mangele es vor allem „an demokratischen Traditionen und Erfahrungen“ in der sowjetischen Gesellschaft. Die Diskussion, auf der solche Erfahrungen gesammelt werden können, ist nun auch im ZK eröffnet. Die Regierungszeitung Is westija berichtete am Dienstag von „stürmischen Dabatten“ in diesem Gremium, als es um den Artikel 31 des Genossenschaftsgesetzes ging. Streitpunkt war, inwieweit die Staatsbürokratie die Genossenschaften gängeln dürfe. Denn, so befürchteten laut Iswestija einige Mitglieder des ZKs, die Zentralverwaltung könne sich über diese Staatsaufträge in die Angelegeheiten der Genossenschaften einmischen und somit die Reform unterlaufen. Die Genossenschaften sollen sich nämlich nach dem Wunsch der Reformer frei entwickeln und zu Konkurrenten der anderen landwirtschaftlichen und industriellen Betriebsformen werden. Hätte die Bürokratie ihnen gegenüber zuviel Einfluß, würde sich kaum etwas verändern und „alles versanden“, heißt es in einem Kommentar des APN–Kommentators Michail Poltoranin. „Noch im Stadium der Ausarbeitung wurden früher die Reform–Maßnahmen zu halben Maßnahmen“, beklagt der Journalist. „Gerade um den Versuch auszuschließen, das Wesen der Reform durch jene auf Halbheiten reduzieren zu lassen, deren Rechte sie unweigerlich schmälert, meinen die Anhänger Gorbatschows, solle man den Mechanismus der politischen Reform nicht auf alte Art, im Inneren des Partei– und Staatsapparates, ausarbeiten. Sogar ein Referendum schlägt der Kommentar vor denn: „Wir wollen nicht vergessen: Es geht um die Macht.“ Erich Rathfelder