Zweifel am „Gröfaz“ Stalin

■ „Größter Feldherr aller Zeiten“? / Erstmals wirft ein sowjetischer Historiker die Frage auf, ob der Triumph Stalins im „Großen Vaterländischen Krieg“ nicht ein Pyrrhussieg war / Fehleinschätzungen und autoritäre Entscheidungen des Diktators hätten den Feind begünstigt / 20 Milllionen sowjetische Tote

Aus Moskau Alice Meyer

Zuwenig Glasnost und zuviel „Paradnost“ - zuwenig Offenheit, zuviel Schwulst. Dieses vernichtende Urteil über die sowjetische Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg fällte A. Merzalow, Kriegsveteran, Professor für Geschichtswissenschaften und leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, in einem Beitrag, der in der Tageszeitung Sozialistische Industrie (Ausgabe vom 15. Mai 1988) veröffentlicht wurde. Die sowjetische Historiographie über den Großen Vaterländischen Krieg habe sich, so Merzalow, bisher um die wesentlichen Fragestellungen herumgemogelt. Der „legitime Stolz der Sieger“ sei „zu gefährlicher Selbstzufriedenheit und falscher Idealisierung“ verkommen. Historiker und Memoirenschreiber hätten unter den Verhältnissen mangelnder Demokratie und Transparenz zahlreiche Schlüsselfragen zum Verständnis der Geschichte (und Vorgeschichte) des Krieges mit Schweigen übergangen. Die „Heiligkeit des Sieges“ mache nicht jede Person, die auf irgend eine Weise an ihm beteiligt war, zum Heiligen. Der Kampf gegen den faschistischen Block wurde in der „Ära des Personenkults“ geführt. Der Sieg „des Volkes und der Partei“ sei aber nicht wegen, sondern trotz dieses Personenkults errungen worden. Es gelte, so Merzalow, nur zu unterscheiden zwischen der während des Krieges notwendigen Zentralisierung der Führung des Landes und dem Stalinkult. War Josef Stalin auf die Aggression des faschistischen Deutsch land „politisch und strategisch“ vorbereitet? Merzalow verneint diese Frage. Der Sowjet–Diktator habe „seit Ende 1924“ den politischen Kurs Lenins verlassen und Faschismus, Pazifismus und Sozildemokratismus ineinsgesetzt. Damit habe er nicht nur den Interessen der Arbeiterklasse, sondern der gesamten Menschheit geschadet und die Sowjetunion und die Komintern im internationalen Maßstab geschwächt. Die UdSSR habe nicht zuletzt aus diesem Grunde ohne einen einzigen Verbündeten in den Krieg gehen müssen. Den „Kommando–Kadern“ der Roten Armee sei unmittelbar vor Kriegsbeginn durch das Verschulden Stalins gewaltiger Schaden zugefügt worden, und der Feind habe in der Annahme, die Sowjet– Streitmacht sei ein „Koloß ohne Kopf“ geworden, seine Angriffspläne vorgelegt. Die „Repressalien Stalins“ hätten sich vor allem gegen jene Armeeführer gerichtet, die fortschrittliche Ansichten vertraten und sich für eine schnellere Ausrüstung der Streitkräfte mit modernem Kriegsmaterial einsetzten. Die Hoffnung des Diktators und seiner Berater, Deutschland werde sich an den „Pakt vom 23.August 1939“ halten, sei naiv gewesen. Die dann folgenden Bemühungen, den faschistischen Machthabern in Deutschland „keinen Vorwand“ für einen Vertrasgsbruch zu liefern, habe diese nicht daran gehindert, die „Lüge vom Präventivcharakter“ des Einfalls in die UdSSR auszustreuen. Ähnlich unbegründet sei die Annahme Stalins gewesen, daß für Deutschland ein Angriff auf die Sowjetunion vor der Niederwerfung Englands nicht in Frage komme. Auch die Erwartung, der faschistische Aggressor werde sich mit dem Ziel der Sicherung von Brennstoffquellen zunächst nach dem nahen und mittleren Osten wenden, habe sich ange sichts der „Blitzkrieg–Doktrin“ als Trugschluß erwiesen. Die historische Bedeutung eines Militärstrategen werde stets auch daran gemessen, ob er den Sieg mit wenig Blutvergießen er rungen habe. Das Leben zu bewahren sei nicht nur eine sittliche Aufgabe: Menschen seien der Hauptbesitz der Nation. Das unbegründete Ansehen Stalins als „großer Feldherr“ halte sich bis heute vor allem deshalb, weil die Menschenverluste der Sowjetunion nie zu denen der Deutschen ins Verhältnis gesetzt wurden. Merzalow nennt Zahlen: Insgesamt seien 20 Millionen auf der so wjetischen und sechs Millionen auf der deutschen Seite umgekommen. Das Verhältnis der Toten bei der Roten Armee und der Wehrmacht gibt er mit zehn und 2,8 Millionen an. Der Roten Armee habe es an der „Professionalität“ gefehlt, zahlreiche „autoritäre Entscheidungen“ Stalins hätten den Feind de facto begünstigt. Die Geschichtsschreibung der UdSSR über den Großen Vaterländischen Krieg sieht, so Merzalow, die 20 Millionen Toten auf sowjetischer Seite fälschlich als bloßes Faktum an - ohne jede Überlegung, ob auch ein anderer Ablauf, ein anderer Ausgang möglich gewesen wäre. Nicht erforscht sei bis heute die Frage, welchen direkten und indirekten Einfluß diese „unvertretbaren Verluste“ auf die Nachkriegsentwicklung des Landes hatten. Der Begriff des Pyrrhussieges habe über Jahrtausende hinweg seine Bedeutung als Anstoß für militär–historische Fragestellungen behalten. Lassen sich, so die rethorische Frage von Merzalow, die Wahlsprüche: „Den Plan um jeden Preis“ und „Den Sieg um jeden Preis“ nicht auf einen gemeinsamen methodologischen Ausgangspunkt zurückführen? Und wie lange sollen die Geschichtswissenschaftler des Landes noch dem „schädlichen Prinzip“: „Über Sieger wird nicht Gericht gehalten“, huldigen. Ein Prinzip, das aus einer Zeit stamme, als es nicht einmal Anfänge einer allgemein menschlichen Moral gegeben habe und als die Menschen noch nicht gelernt hätten, Ziele und Mittel ins Verhältnis zueinander zu setzen. Damit hat Merzalow den Bogen über Stalin hinaus bis in die Breschnew–Ära, ja bis in die sowjetische Jetztzeit gespannt: Zu der immer noch überall anzutreffenden Befehlsempfänger–Mentalität zur mangelnden Initiative der Sowjetbürger und zu den aufwendigen Materialschlachten um die Erfüllung von Plänen, deren Nutzen fürs Volk oft gleich Null ist.